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Über Jan Wilms Debütroman »Winterjahrbuch« Wenn Sprache Realität erfindet

Die autofiktionale Literatur, in der sich Autobiografisches und Fiktionales so eng verflechten, dass nicht mehr entschieden werden kann, wo und wie sich beides mischt, erfreut sich aktuell einer Dauerkonjunktur. Man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht sogar von einer Art Flirt der Autoren, heißen sie nun z. B. Karl Ove Knausgård oder Joachim Meyerhoff, mit ihrer Leserschaft sprechen, suggerieren die Texte doch immer »Nähe«, eine Wirklichkeit, die dem Leser potenziell zugänglich wäre, hat es den Anschein, als erhebe sich »die Kunst« hier nicht über »das Leben«. Lesend nimmt man Anteil, wie sich der knausgårdsche Erzähler zwischen Kuscheltieren, Ketchup und Köttbullar mit der Kindererziehung abmüht, oder der meyerhoffsche Erzähler zwischen Frau und Frau und Frau herumirrt, also tut, was sich mancher heimlich wünschen mag, aber nicht traut: Banalität in dem einen und Besonderheit in dem anderen Fall – die Botschaft: Ja, so ist es, das Leben, das der Autoren und das der Leser.

Paradoxerweise könnte der Erfolg dieser Texte aber auch umgekehrt erklärt werden: Indem die Autoren das Substrat ihrer Erfahrung in Sprache verwandeln, heben sie Banalität beziehungsweise Besonderheit vermittels der Sprache auf, ist das Leben immer schon in Literatur verwandelt, gewinnt das Unübersichtliche und Kontingente, aus dem sich eine (Lebens-)Geschichte destillieren lässt, an Kontur, gewinnt die erzählende Instanz die Kontrolle zurück, die sie längst verloren hat im Kampf gegen die Unübersichtlichkeit – und im Kampf gegen einen relativen Bedeutungsverlust der Literatur: Noch einmal bestimmt also der Autor, was stimmt, indem er sich erzählend Hoheit, Autorität über sein Material verschafft.

Ein Text, der diese Positionen in seinem Verlauf im Blick behält, ist der Debütroman des Literaturwissenschaftlers, Übersetzers und Kritikers Jan Wilm. Das Winterjahrbuch zählt, weniger aufgrund seines Umfangs von 450 Seiten, sondern aufgrund seiner Komplexität zu den nicht leicht verdaulichen, lesenswerteren Neuerscheinungen des Bücherherbstes. Der Roman lotet die Grenzen der Gattung dadurch aus, dass er Fragen nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, nach dem Verhältnis von autobiografischem und erdachtem Ich, nach den Grenzen und Möglichkeiten von Sprache, von Literatur, von Film, bildender Kunst und Musik beharrlich immer neu stellt.

Schauplatz des Romans ist Los Angeles, wohin sich das Alter Ego des Erzählers und Autors Jan Wilm, nach der Trennung von einer Frau und dem Ausscheiden aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb zurückzieht. Mit einem DAAD-Stipendium will er am Getty-Institut über Gabriel Gordon Blackshaw forschen und ein Buch über den verschollenen Fotografen schreiben, der sich auf Schneeaufnahmen spezialisiert hatte. Abwesenheiten also allerorten: Die Geliebte ist weg, der Job ist – durch das Stipendium etwas aufgeschoben – weg, die vertraute Umgebung ist weg, und selbst der Forschungsgegenstand muss erst erschlossen werden. Schnee gibt es auch nicht in der Wüstenlandschaft, in der sich die Millionenstadt Los Angeles zum Pazifik hin erstreckt, und den Glauben an die Wissenschaft hat der Erzähler außerdem verloren: »Zu vieles am wissenschaftlichen Gerede ist eben gerade das, Gerede, zu viel vorschnelles Planen und Sagen, was man sagen will, anstatt zunächst zu schreiben und erst hinterher davon zu erzählen.«

Nicht-Können, Nicht-Wissen, Nicht-Wollen

Woran sich also halten in so einer Situation? Ans Schreiben? Das will zunächst kaum klappen und so begegnet man diesem Erzähler-Ich in Momenten des Trauerns, des Nicht-Könnens, Nicht-Wissens, Nicht-Wollens, des Verneinens: Bier trinkend in seinem Forscherdomizil, einem kleinen Häuschen, »Casita« genannt, das zum Hort seiner nicht selten schwer erträglichen Selbstmitleidstiraden ob der Trennung wird. Schwer erträglich sind diese einerseits zu lesen, aber andererseits dennoch genau deshalb auszuhalten, weil sie zum einen nichts beschönigen und zum anderen dem Selbstmitleid von Beginn an etwas entgegengehalten wird, was die Hilflosigkeit und Unfähigkeit performativ konterkariert: Um das Nicht-Können, Nicht-Wissen, Nicht-Wollen, das Verneinen entstehen ja Erzählstränge, geht das Schreiben unweigerlich voran, was dann aber auch wiederum skeptisch beäugt wird.

Aus dieser skeptischen, in der Tradition von Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos stehenden Befragung der Möglichkeiten und Grenzen von Sprache, aus dem Versuch, sich an dem brüchig gewordenen Floß der Wissenschaft zumindest in der Rolle nach außen hin festzuhalten, sich aus der unglücklichen Vergangenheit der gescheiterten Liebe in eine neue zu retten, im Bewusstsein, dass auch diese Rettung zum Scheitern verurteilt werden kann, entsteht der Text.

Dem Selbstmitleid des Erzählers entgegen stellt er selbst den selbstverständlichen Umgang mit belletristischen und essayistischen Texten, wie etwa Roland Barthes' Tagebuch der Trauer, das dieser nach dem Tod seiner Mutter verfasste, mit Gedichten, die zitiert werden. Entgegengebracht wird diesem Selbstmitleid auch Musik: alle Unterkapitel des in vier Jahreszeitenkapitel unterteilten Romans tragen Songtitel – man kann die komplette Playlist von Jan Wilms Webseite herunterladen –, was einen weiteren Kunstgriff darstellt, mit dem der Autor die Grenzen der Gattung Roman überschreitet.

Es war bereits die Rede von dem Autor Jan Wilm und dem Ich-Erzähler Jan Wilm. Das Ich des Erzählers ist im Winterjahrbuch vor allem immer wieder als Hervorbringung der Sprache inszeniert und wieder negiert: »Wenn ich SPRACHE sage, dann meine ich AUSLÖSCHUNG.« Sätze wie diese verhindern, trotz der Markierung des erzählenden Ichs als Jan Wilm, die Annahme, es handele sich hier um eine mit der Lebenswirklichkeit übereinstimmende Schilderung des Lebens des 1983 geborenen Autors Jan Wilm, der in Darmstadt, Frankfurt und Essen unterrichtet hat und seine Doktorarbeit – anders als der Protagonist des Winterjahrbuchs über den südafrikanischen Nobelpreisträger J. M. Coetzee geschrieben hat.

Während der Roman auf der Handlungsebene das Hadern und Heulen, das Zaudern und Zweifeln zelebriert, wird auf der Reflexionsebene genau das transzendiert. Und die in weiten Teilen als real inszenierte Biografie wird gespiegelt in der Figur des Fotografen Blackshaw, der als ein weiteres Alter Ego des Erzählers inszeniert wird, als Projektionsfläche der Trennungstrauer des Erzählers.

Verhältnis von Wahrheit und Fiktion

Indem der Text permanent Spuren hin zu dem biografischen Jan Wilm legt, um sie dann wieder zu verwischen, indem er sie prismatisch in der Figur Blackshaws bricht, indem er immer wieder explizit die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Fiktion stellt und dabei deutlich macht, dass die Trennung im Modus der Literatur ebenso idealtypisch ist, wie die zwischen Form und Inhalt, tut er seiner Leserschaft den großen Gefallen, sie nicht zu unterfordern, sie nicht mit dem zu konfrontieren, was häufig gerne als »realistisches Erzählen« deklariert wird, und doch gerade in seinen Vereinfachungen wenig mit Erfahrungswirklichkeit zu tun hat. Wilms Ich-Erzähler zögert, hadert, verfranzt sich, denkt viel Widersprüchliches zugleich, verfängt sich in Redundanzen und Denkspiralen, bleibt sich und seinen Figuren streckenweise ein Rätsel, und ist genau darum in seiner ausgewiesen artifiziellen Art viel glaubwürdiger und näher am Leben als viele Figuren anderer deutschsprachiger Gegenwartsromane.

Stimmig auch der Titel Winterjahrbuch. Über den Einfluss der Jahreszeiten wird in der Literatur viel nachgedacht, in Harry Mulischs Weltbestseller Die Entdeckung des Himmels sinniert die Cellistin Ada während eines Spaziergangs durch Amsterdam darüber: »Das Amsterdamer Grau fiel ihm/ihr? nach den tropischen Farben besonders auf«, heißt es da, und weiter: »diese Abwechslung der Jahreszeiten kannte man in den Tropen nicht: keinen Herbst, keinen Winter, keinen Frühling – eigentlich nur den Sommer. Waren Chopin oder Strawinsky in einem solchen Klima denkbar?«

Auch Wilms Roman wäre ohne den Winter nicht denkbar. Schnee, weiß und vergänglich wie Papier, wird zur Metapher der Flüchtigkeit von Leben und Literatur. Das Forschen des Erzählers Wilm über den Fotografen Blackshaw, dessen Name das Gegenteil von Weiß, also von Schnee, mitmarkiert, und der womöglich eine Erfindung des Autors ist, obwohl wir im Internet vermeintliche »Belege« seiner Existenz finden, treibt das Spiel mit Faktischem und Fiktion weiter auf die Spitze. Passagen über Blackshaw scheinen selbst fotografischen Aufnahmen zu ähneln, im Beschreiben kommen literarische Techniken zum Einsatz, vergleichbar dem Ein- und Auszoomen einer Kamera. Und wie ein Foto, das in der Wahl eines bestimmten Ausschnitts von Wirklichkeit andere Teile der Wirklichkeit nicht abbildet, so gilt: Jedes Erzählte erzählt etwas Bestimmtes gerade nicht, es bleibt verhüllt wie unter einer Schneedecke.

Das Winterjahrbuch ermöglicht einen mal schneesturmwolkendunklen, mal schneeflockenhellen fast allegorisch zu nennenden Einblick in das Innenleben eines mitteleuropäischen Intellektuellen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie Schnee – ja, auch die klimapolitische Dimension klingt im Roman an – zur Seltenheit zu werden, ja, zu verschwinden droht, so droht auch das klassische Intellektuellendasein zu verschwinden, das ob prekärer Beschäftigungsverhältnisse im akademischen Betrieb bedroht ist, zudem das von spätkapitalistischen Logiken und dem überhitzten Buchmarkt bestimmte Leben des freien Schriftstellers. Der Roman ist dabei klug genug, all diese Ebenen nicht explizit zu benennen, sondern sie lediglich anzuspielen.

In der Liebe zu Ada, die der Erzähler in Los Angeles trifft, ehe er das Land wieder verlassen muss, kommt ihm plötzlich die Einsicht: »Bei allen lamentierenden Fragen, warum niemand so mit mir leidet wie ich selbst, habe ich vergessen, nach ihren Schmerzen zu fragen, und wie kann ich glauben, einen Menschen kennengelernt zu haben, wenn ich nicht weiß, wie diesem Menschen wehgetan wurde?« Hier zeigt sich der Erzähler, allem Zweifel an Literatur, Kunst, Wissenschaft, Sprache zum Trotz, als einer, dem dann auch aufgeht, dass er sich der Welt, dem Fremden und Befremdenden zuzuwenden nicht vergessen darf.

Jan Wilms literarische Hommage an den Winter, die Melancholie, das Flüchtige und Einmalige, an die Liebe in Gestalt zu den Frauen, der Literaturwissenschaft, der Fotografie und der Musik, ist eine, mit der sich so manchem Kälteeinbruch etwas entgegensetzen lässt. Dass der Roman die Diskussion über autofiktionale Literatur mit einem hochintelligenten literarischen Langkommentar befeuert, ist lediglich eine, allerdings eine äußerst spannende von vielen möglichen Lesarten.

Jan Wilm: Winterjahrbuch. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2019, 456 S., 24 €.

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