Bündnis 90/Die Grünen waren nicht erst in der heißen Phase des Wahlkampfes 2025 massivem politischen Druck ausgesetzt. Seit Monaten richtete sich die Kritik, die oft auch polemisch und emotional vorgetragen wurde, in einer sehr hohen Taktung gegen diese Grünen und die Person Robert Habecks. Am Wahlabend ging Söder in einem Interview mit n-tv gar so weit zu behaupten, die Grünen hätten die SPD bei der Bundestagswahl 2025 runtergezogen und Robert Habeck sei »ganz persönlich Schuld an der gesamten Wirtschaftskrise.«
»Bizarre Attacken unterstellten den Grünen große Gestaltungsmacht und überbordenden politischen Einfluss.«
Diese bizarren Attacken unterstellten den Grünen als einen Partner der Koalition und einem einzelnen Wirtschaftsminister implizit große Gestaltungsmacht und überbordenden politischen Einfluss. Während die Wirtschaftsminister der Vergangenheit, die etwa im Kontext der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise 2007/08 eine sekundäre Rolle spielten, denn damals managte die Kanzlerin Angela Merkel und der Finanzminister Peer Steinbrück in Abstimmung mit den europäischen Partnern de facto die Krise, hat der Grüne Robert Habeck in der Wahrnehmung seiner politischen Konkurrenz in Zeiten des Ukrainekrieges und der Energiekrise eine scheinbar wundersame Macht entwickelt. Vielleicht gehört es zur bitteren Ironie der Geschichte der Ampelkoalition, dass sie zu einer Aufwertung und anderen Wahrnehmung dieses Ressorts führte?
Die Landkarten, die nach der Bundestagswahl 2025 veröffentlicht wurden, visualisieren einen nahezu flächendeckenden Wahlsieg der Union im Westen und der AfD im Osten Deutschlands. Die von Campact veröffentlichte Grafik zeigt, dass die politische Landschaft vielfältiger ist als gedacht. Neben der Union und der AfD erhielten auch SPD, Grüne und Linke viele Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2025 kamen die Grünen auf 11,6 Prozent der Zweitstimmen. Sie sind nun mit 85 Abgeordneten im neuen Bundestag vertreten. Zwölf Abgeordnete der Grünen gewannen ein Direktmandat. Insgesamt konnte die Partei jedoch nicht an das starke Ergebnis von 2021 anknüpfen, als sie mit 14,8 Prozent einen parteihistorischen Höchstwert erreichte. Dennoch ist es das zweitbeste Bundestagswahlergebnis der Grünen. Insofern haben sie also bei dieser vorgezogenen Neuwahl ein paar Federn gelassen, doch sind die Verluste für sie weit weniger dramatisch als für die beiden anderen Koalitionspartner der Ampel.
»Das Mobilisierungspotenzial der Grünen wurde zuweilen überschätzt«.
In den Umfragen hatten die Grünen phasenweise sehr viel bessere Zustimmungswerte erreicht. Mitte 2022 lagen sie laut infratest dimap zeitweise bei 23 Prozent. Dies fiel in die Phase des Krisenmanagements der Ampelregierung, als es vor allem darum ging, die energie- und sicherheitspolitischen Folgen des Ukrainekrieges zu bewältigen. Das Krisenmanagement der Grünen im Wirtschaftsressort und im Auswärtigen Amt wurde von den Befragten damals offenkundig wertgeschätzt. Dieses Hoch hat unrealistische Erwartungen mit Blick auf künftige mögliche Wahlerfolge geweckt. Zusätzlich befeuerte der DeutschlandTREND im November 2024 diese Hoffnungen: 33 Prozent der Befragten gaben an, dass eine Wahl der Grünen für sie grundsätzlich infrage käme – unabhängig von ihrer aktuellen Wahlentscheidung. Das Mobilisierungspotenzial der Grünen wurde also zuweilen überschätzt. Zwar verzeichnete die Partei einen starken Mitgliederzuwachs, dieser speiste sich jedoch größtenteils aus der bestehenden Wähler*innenschaft, sodass es nicht gelang, darüber hinaus neue Wähler*innengruppen zu mobilisieren. Gleichzeitig fielen die Umfragewerte seit Anfang 2023 wieder auf das Niveau rund um die Bundestagswahl 2021 zurück.
Die erfolgreichste grüne Partei Europas
Ein Blick über die deutschen Grenzen hinweg zeigt, dass diese Wahlergebnisse von Bündnis 90/Die Grünen sehr gut sind. Der Vergleich mit den Wahlerfolgen grüner Parteien in anderen europäischen Ländern verdeutlicht, dass in keinem anderen europäischen Land eine einzelne grüne Partei bei nationalen Parlamentswahlen mit Bündnis 90/Die Grünen vergleichbare Wahlergebnisse erzielte. In der Schweiz, in Österreich, Frankreich, in Süd- und Osteuropa, in Skandinavien und auch in Großbritannien erreichen die Schwesterparteien lediglich einstellige Stimmenanteile. Dies lässt zunächst vermuten, dass das Wähler*innenpotenzial grüner Parteien begrenzt bleibt. Größere Wahlerfolge erzielen grüne Parteien gegenwärtig indes dort, wo sie sich mit anderen Parteien zu elektoralen Bündnissen zusammenschließen.
In Frankreich haben etwa 2024 Les Écologistes – Europe Écologie Les Verts (EELV) als Teil der Union de la gauche/Nouveau Front populaire rund ein Viertel der Wähler*innenstimmen gewinnen können. In den Niederlanden gewann das Bündnis GroenLinks-PvdA (GL-PvdA) 2023 15,7 Prozent der Stimmen. In Polen war im selben Jahr das Wahlbündnis Trzecia Droga von grünen, christdemokratisch-konservativen und pro-europäischen Parteien ähnlich erfolgreich. In Ungarn entstand gar ein noch breiteres Bündnis aus Grünen, Linken, Sozialisten, Liberalen und Konservativen (Parteien Demokratikus Koalíció (DK), Jobbik, LMP – Magyarország Zöld Pártja (LMP), Magyar Szocialista Párt (MSZP), Momentum Mozgalom (MM), Magyar Liberális Párt (MLP), Párbeszéd (PM) und Új Kezdet (UK)), die gemeinsame Kandidat*innen nominierten, um gegen die Regierung von Victor Orbán anzutreten. Dieses Bündnis gewann mehr als ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Diese Vergleiche helfen, die Wahlerfolge von Bündnis 90/Die Grünen besser einzuordnen. In dem deutschen fragmentierten Parteiensystem, in dem auch die früheren Volksparteien nicht an alte Erfolge anknüpfen können, haben sich Bündnis90/Die Grünen freilich konsolidiert und im zentrifugalen Parteienwettbewerb inzwischen potenziell mehrere Koalitionsoptionen.
Bündnis 90/Die Grünen werden einerseits der linken Mitte zugeordnet, andererseits als progressive Partei bezeichnet. Wenn wir uns in politischen Debatten und wissenschaftlichen Analysen auf das altbewährte Links-rechts-Schema beziehen, nutzen wir einen kommunikativen Code, der die Komplexität politischer Positionen reduziert. Laponce spricht von einem »räumlichen Archetyp«, der uns hilft, den semantischen Raum des Politischen zu strukturieren. In der Logik dieser räumlichen Ordnung werden die Grünen in der Regel zwischen Die Linke und der SPD eingeordnet. Tatsächlich finden sich in der Programmatik der Grünen klare linke Marker. In der Außenpolitik werden in antiimperialistischen Positionen, dem Fokus auf Friedenspolitik, dem Engagement für Freiheit und Menschenrechte sowie sichere Fluchtwege linke Marker gesetzt. In der Innenpolitik sind es Forderungen nach mehr Partizipationschancen der Bürger*innen und direkter Demokratie, die Familien- und Geschlechterpolitik sowie das Eintreten für gesellschaftliche Diversität. Andere traditionell linke wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen wie Umverteilungsfragen, Verstaatlichung oder Rekommunalisierung, die Enteignung großer Wohnungskonzerne sowie die kostenlose Nutzung von Infrastruktur gehören hingegen nicht zum Kern des grünen Repertoires.
Schmerzhafte Zugeständnisse nach den beiden Regierungskoalitionen.
Die beiden Regierungskoalitionen, die die Grünen bisher im Bund eingegangen sind, haben deutliche Spuren hinterlassen und den Grünen schmerzhafte Zugeständnisse abgerungen. Dies galt zuletzt etwa für die Waffenexporte an der Ukraine und die Kompromisse zur Begrenzung des Asylrechts beziehungsweise der Zuwanderung. Diese Zugeständnisse führten auch innerparteilich zu kontroversen Positionen. Im Wahlkampf 2025 stellte sich der linke Flügel der Partei teils offen gegen Habecks Kurs, während die Grüne Jugendorganisation sich von der eigenen Partei zuweilen entfremdete. Es sind gerade diese Zugeständnisse, die den Grünen auch auf den letzten Metern des Wahlkampfes Wähler*innenstimmen gekostet haben. Die Grünen haben insbesondere an Rückhalt bei jungen Wähler*innen verloren. Sie hätten, so berichtete die tagesschau am 24. Februar 2025, ihre Wähler links liegen lassen. Rund 700.000 Wähler*innen der Grünen haben bei der Bundestagswahl 2025 ihre Stimme der Linkspartei gegeben.
Jenseits dieser räumlichen Ordnung lassen sich Bündnis 90/Die Grünen auch als progressive Partei typologisieren. Sie bezeichnen sich in ihrem Grundsatzprogramm selbst als »progressive Kraft«. Tatsächlich wurde die Differenz zwischen progressiven, das heißt in die Zukunft gerichteten Politikkonzepten, und regressiven Tendenzen, die sich auf die in der Vergangenheit liegenden »guten alten Zeiten« beziehen, sehr deutlich. In den Wahlbotschaften radikalkonservativer Parteien fand sich etwa gehäuft das Wort »wieder«. Die CDU formulierte den Slogan: »Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können«. Die CSU verbreitete die Botschaft »Deutschland wieder in Ordnung bringen«. Es gab außerdem etliche Ankündigungen, politische Beschlüsse der vergangenen Jahre zurückzunehmen – vom Verbrennerverbot bis zur Cannabislegalisierung, von der Wiedereinführung der Wehrpflicht bis zum Selbstbestimmungsgesetz.
Die Überbringerin schlechter Nachrichten und ihre Oppositionschanche
Das Dilemma der politischen Kommunikation für die Grünen besteht darin, dass regressive Botschaften bei Rezipient*innen unmittelbar Bilder und Emotionen hervorrufen, während sich aus progressiven Botschaften nicht gleich konkrete affektbesetzte Bilder generieren. Dies gilt beispielsweise für das Konzept der ökologisch-sozialen Transformation, die radikalkonservative Parteien als »ideologisch« brandmarken. Den Grünen wird weiterhin eine besondere Umwelt- und Klimapolitik attestiert. Es bedarf indes fundierter Fachkenntnisse und Kreativität, sich diesen umfassenden und tiefgreifenden Wandel der Lebens- und Wirtschaftsweisen imaginieren zu können. Hinzu kommt, dass in der Wahrnehmung vieler Bürger*innen Begriffe wie Veränderung, Transformation und Reform als Synonyme für drohende Verschlechterung wahrgenommen werden.
Bündnis 90/Die Grünen haben eine sehr enge Verwurzelung in der Zivilgesellschaft.
Zu den besonderen Stärken von Bündnis 90/Die Grünen gehört, dass sie im Gegensatz zu anderen Parteien eine sehr enge Verwurzelung in der Zivilgesellschaft aufweisen. Dies manifestierte sich unter anderem in den Beziehungen zu Fridays for Future und in den Demonstrationen gegen Rechts, die Hunderttausende vor der Bundestagswahl mobilisierten. In einer kleinen Anfrage richtete die Union einen umfassenden Fragenkatalog an die Bundesregierung, um Aufklärung über die politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen zu verlangen. Viele der darin genannten Organisationen sind progressive zivilgesellschaftliche Organisationen, die als strategische Partner der Grünen gelten. In Bezug auf die ökologisch-soziale Transformation – das ist zynisch – spielt die Zeit für die Grünen.
Selbst wenn dringend notwendige Klimaschutzmaßnahmen weiter hinausgezögert oder bereits getroffene Entscheidungen wie das Verbrennerverbot oder das Heizungsgesetz zurückgenommen werden, bleiben die Folgen des Klimawandels unübersehbar. Mit der Häufung von Extremwetter, Fluchtbewegungen als Folge des Klimawandels, dem Verlust von Biodiversität, steigenden Gesundheitsrisiken sowie der Gefährdung der Lebensmittelversorgung werden auch andere Parteien gezwungen sein, eher kurz- als langfristig bisweilen (unpopuläre) Maßnahmen zum Schutz des Klimas und zum Umgang mit den Folgen der Erderwärmung zu ergreifen. Bündnis 90/Die Grünen sind in dieser Logik die unbeliebten Überbringer der schlechten Nachrichten, die viele derzeit noch zu verdrängen suchen. Diese Tatsachen werden nun freilich nicht unmittelbar zu neuen Wahlerfolgen führen.
Abhängig davon, wie sich der Regierungsbildungsprozess in den kommenden Wochen und die neuen Dynamiken im Bundestag gestalten, eröffnen sich für die Grünen als Partei nun eventuell neue links-progressive Kooperationspotenziale. Dies dürfte insbesondere dann relevant werden, falls sich die Sozialdemokraten – wider Erwarten – doch gegen eine Koalition mit der Union entscheiden sollten. Die Grünen, die Linke und gegebenenfalls auch die SPD würden in einer solchen Konstellation der parlamentarischen Opposition strategisch enger zusammenwachsen. Daraus könnten mittelfristig auch Absprachen im Vorfeld vor Wahlen und eventuell sogar erfolgreiche elektorale Bündnisse entstehen.
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