Menü

Emmanuel Macrons Vision für die Zukunft Europas und Deutschlands Verantwortung Wolken am Horizont

Kommunikativ war es schon ein Erfolg, denn die Aufmerksamkeit in Europas Regierungskreisen war dem französischen Präsidenten gewiss, als er seine lange angekündigte Rede zur Zukunft Europas Ende September an der Sorbonne in Paris hielt. Bekannt war bis dato, dass da einer mit offensiv proeuropäischer Kampagne dem Zeitgeist und den Nationalpopulisten getrotzt und nebenbei das gesamte politische Establishment Frankreichs weggefegt hatte. Schon im Wahlkampf um das Präsidentenamt hatte Emmanuel Macron einen Deal auf zwei Ebenen angeboten: Im Gegenzug für eine Liberalisierung der französischen Wirtschaft sowie der Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung, solle sich Europa und insbesondere die Eurozone von der reinen Marktlogik in Richtung grenzüberschreitende Solidarität bewegen. Der offensichtliche inhaltliche Widerspruch dieses Angebots ist bislang kaum diskutiert worden. Auch nicht in Deutschland, wo Politik und Medien zwar den europäischen Esprit des jungen Franzosen bestaunen oder bewundern, sich in der Sache aber als Gralshüter ordnungspolitischer Prinzipien gefallen.

Während der neue französische Präsident bei seinen Europaplänen zunächst unkonkret blieb und sich in die Niederungen der Arbeitsmarktreform begab, ersann man sich hierzulande eine Sequenz des angebotenen Deals: Natürlich müsse Macron erst »liefern«, also das Nachbarland reformistisch umkrempeln, bevor man europapolitische Gestaltungsspielräume ausloten könne. Die Regierung Angela Merkels hatte sich schon unter den Amtsvorgängern François Hollande und Nicolas Sarkozy als Meisterin darin erwiesen, die Anliegen aus Paris für ein anderes Krisenmanagement in der Eurozone, für Investitionsinitiativen und eine soziale Integrationskomponente freundlich, aber bestimmt auf die lange Bank zu schieben. Mit Macron würde das nicht so einfach werden. Sein Zwei-Ebenen-Spiel enthält mitnichten eine Reihung, sondern lebt von der Gleichzeitigkeit: Nur wenn Europa solidarisch das auffängt, was der Tanz ums goldene Kalb wohlfahrtsstaatlicher Regression zugunsten des Marktes zu zertrampeln droht, hat Frankreichs Präsident sein Versprechen an die Wählerinnen und Wähler erfüllt.

Europäische Solidarität statt reine Marktlogik

Als Anhänger der Perspektive einer Fiskalunion für die Eurozone hat sich Macron bereits früh zu erkennen gegeben. Im Gegensatz zur ordoliberalen Vision einer Stabilitätsunion nach deutscher Lesart, gehört zu einer fiskalischen Integration der Wirtschafts- und Währungsunion ein gemeinsames Budget zum Ausgleich makroökonomischer Ungleichgewichte und eine keynesianisch inspirierte Möglichkeit der wirtschaftspolitischen Intervention auf supranationaler Ebene. Diesen zentralen Punkt hat Macron bereits in einem gemeinsamen Zeitungsbeitrag 2015 mit seinem damaligen Amtskollegen als Wirtschaftsminister, Sigmar Gabriel, formuliert. Er hat die Idee als Kandidat in der Wahlkampagne und schließlich als Präsident verteidigt – auch anlässlich seines Antrittsbesuchs bei der deutschen Kanzlerin. Versuche von deutscher Seite, Macron durch begriffliche Einigkeit zur Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen europäischen Währungsfonds und zur Installation eines europäischen Finanzministers einzufangen, haben den Élysée nicht davon abgebracht, die negativen Erfahrungen des bislang von Berlin dominierten Krisenmanagements in der Währungsunion zu geißeln.

Macron versteht es, seine Botschaften symbolisch aufzuladen und geschickt zu verpacken, sodass ein schlichtes »Nein« nicht sticht. So etwa, wenn er Griechenland in einer Rede Anfang September in Sichtweite der Akropolis, das Erbe der attischen Demokratie und die daraus erwachsende Verantwortung beschwörend, Hoffnung auf ein Ende der Sparpolitik und ein Absinken der Arbeitslosigkeit macht. Und schließlich beim langen Europadiskurs im Tempel universellen Bildungsstrebens im Quartier Latin. Die letzten zehn Jahre habe man in Europa viel von Verantwortung gesprochen, darüber aber die Solidarität vergessen, urteilt der Präsident. Die Kritik an der regelbasierten Marktgläubigkeit deutscher Herkunft ist unüberhörbar, doch zugleich lobt er die deutsch-französische Freundschaft als Integrationsmotor und erinnert an die Überwindung der Kriegsfeindschaft durch die Gründerväter der Europäischen Union. Im Angesicht der Europaperspektive von Jean Monnet, Robert Schuman und Konrad Adenauer verblasst der Streit um die Reformperspektive für die Währungsunion: Ob der Giebel nun nach rechts oder links ausgerichtet wird, wirkt banal, wenn man sich beiderseits des Rheins einig ist, ein krisenfestes Dach für die Eurozone bauen zu wollen.

Kollektive, grenzüberschreitende Herausforderungen

Doch auch Macron ist nicht entgangen, dass ihm nach der Bundestagswahl möglicherweise keine Jubelstimmung aus der künftigen Regierungskoalition entgegenhallen wird. Seine in der Sorbonne präsentierten Pläne drehen sich daher viel weniger als erwartet um das Thema der Währungsunion und sind inhaltlich so breit aufgestellt, dass sich selbst für jene Politiker des Nachbarlandes, die ängstlich die Transferunion aufziehen sehen und vorsorglich rote Linien abstecken, Anknüpfungspunkte finden ließen. Macrons Horizont ist weit, aber er malt nicht in grellen Farben. Zu seinen konkreten Vorschlägen gehören eine engere Kooperation im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit mit einer europäischen Staatsanwaltschaft, einer europäischen Grenzpolizei und einer eigenen militärischen Interventions- und zivilen Schutztruppe. Eine europäische Asylagentur soll die gemeinsame Migrationspolitik voranbringen. Für den EU-Haushalt möchte sich ausgerechnet Frankreich bei der Gemeinsamen Agrarpolitik bewegen; Digitalisierung und E-Mobilität der Industrie sollen gemeinsam gefördert werden.

All dies sind große Baustellen, nicht aber zwischen Frankreich und Deutschland, die sich hierzu unabhängig von der Couleur der Regierung einig werden könnten. In vielen Punkten waren es in der Vergangenheit die französischen Partner, die eine europäische Lösung nicht wollten. Macron nun hat verstanden, dass sich in allen angesprochenen Politikfeldern grenzüberschreitende Herausforderungen ergeben, denen allein auf Gemeinschaftsebene souverän begegnet werden kann. Folgerichtig müssen demokratische Legitimationsketten über mitgliedsstaatliche Politikarenen hinaus verlängert werden, muss eine europäische Öffentlichkeit mit einem europäischen Parteiensystem entstehen, die den intergouvernementalen Politikmodus einhegt. Meint Macron eine solch deutliche Wegbewegung vom gaullistischen Modell des »Europas der Vaterländer« ernst, wird er im Nachbarland eher offene als geschlossene Türen vorfinden. Die von ihm vorgeschlagenen Bürgerkonvente zur Zukunft der Union und transnationale Listen im Europäischen Parlament werden in einer wie auch immer gestalteten künftigen deutschen Koalition sicher nicht zu den Streitpunkten gehören.

Was aber bedeutet eine solche Grundierung, vor der die Souveränität des tradierten Nationalstaates zunehmend ihre Konturen verliert, für die sozioökonomisch drängenden Fragen? Die Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmer/innen ist bereits nach den Wünschen Frankreichs angepasst worden: Künftig sollen die Tariflöhne und Sozialschutzbestimmungen des Ziellandes stärker im Mittelpunkt stehen. Mit Mindeststandards für die Unternehmenssteuern und einem Rahmen für Mindestlöhne in jedem Mitgliedsstaat werden keine bahnbrechend neuen Forderungen erhoben. Bei der Finanztransaktionssteuer rudert Macron gar zurück, indem er Derivate aus dem Kommissionsvorschlag zur Finanzmarktbesteuerung herauslösen will. Als größtes Konfliktthema zwischen Paris und einer von Angela Merkel geführten Regierung in Berlin bleibt, man kann es drehen und wenden wie man will, letztlich die Reform der Währungsunion.

Die aktuelle französische Zurückhaltung zu diesem Punkt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der künftigen Struktur und Steuerung der Eurozone entscheidet, ob es beiderseits des Rheins eine gemeinsame Vision für Europa gibt. Die Ausbildung der Währungsunion als Kerneuropa – mit eigenem Finanzminister, Eurozonenparlament und einem ersten Schritt in Richtung Fiskalföderalismus durch ein gemeinsames Budget – wäre für die Integration prägender und weitreichender als die Einrichtung einer militärischen Interventionstruppe. Im Kreise befreundeter Nationen gehört die Landesverteidigung für viele europäische Staaten längst nicht mehr zur höchsten Priorität bei den die eigene Souveränität unterstreichenden Politiken. Beim Geld dagegen hört der Spaß auf. Die Eurokrise hat unlängst gezeigt, wie schwer es in einigen Hauptstädten fällt, die Währung als gemeinsames öffentliches Gut anzuerkennen, das neben der Politik der Europäischen Zentralbank auch fiskalische Politikgestaltung auf supranationaler Ebene verlangt. Wolfgang Schäuble hat für seine letzte Sitzung im Finanzministerrat die deutsche Ablehnung einer Fiskalunion in aller Deutlichkeit zu Papier gebracht: Als hätte die letzte Krise nie stattgefunden, seien budgetäre Regelgebundenheit, Strukturreformen und eine rein nationale Abfederung ökonomischer Schocks absolut ausreichend.

Sackgasse nationale Eigenverantwortung

Wenn Schäubles europapolitisches Vermächtnis die neue Bundesregierung anleiten sollte, wird die Reform der Währungsunion auf unbekannte Zeit verschoben werden müssen. Das wäre ökonomisch unklug, denn die Eurozone ist institutionell nach wie vor nicht gewappnet für eine neuerliche große Krise. Politisch wäre es eine Sackgasse, denn das Beharren auf nationaler Eigenverantwortung wird im Krisenfall nicht ohne die Preisgabe der Gemeinschaftswährung eingelöst werden können. Wer aber den Bürgerinnen und Bürgern nationale Souveränität vorgaukelt, ohne den vollen Gestaltungsspielraum ermessen zu können, schaufelt Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten.

Emmanuel Macron wird alles versuchen, seine »Neugründung« Europas auch im ökonomischen Bereich voranzutreiben. Angela Merkel wird zwar die ausgestreckte Hand des Franzosen ergreifen, doch besteht die Gefahr, dass mit einem Feuerwerk an Initiativen in allen Politikbereichen und institutionellen Nebensächlichkeiten der europäische Horizont vernebelt wird. Es wird eine linke Opposition brauchen, die entschieden für den europäischen Gestaltungsanspruch auch in Kernbereichen staatlicher Souveränität streitet, um mit einem alternativen Kurs für klare Sicht zu sorgen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben