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Wozu noch Volksparteien?

Was ist los mit den Parteien? Sind sie von einer demokratischen Haupt- in eine Nebenrolle gewechselt? Vertreten sie heute weniger die gesellschaftlichen als die funktionalen Interessen des politischen Systems? Inszenieren sie (Schein-)Alternativen, um Wahlkämpfe zu führen, ohne dabei aber wirklich Politik gestalten zu können? Offensichtlich ist, dass über sie meist im Kontext von Krisen-, End- und Untergangsszenarien gesprochen wird. Kulturell-sklerotische Organisationen seien sie, verwiesen wird auf signifikante Mitglieder-, Wähler-, Repräsentations- und Vertrauensverluste.

Ursächlich dafür sind drei wesentliche Prozesse: Erstens die Komplexitätssteigerung des politischen Prozesses, die die Lösungsfindung hemmt und klare politische Verantwortlichkeiten verwischt; zweitens die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft, die gruppenbezogene Ansprachen enorm erschwert; drittens die De-Nationalisierung und Globalisierung, die die Steuerungsfähigkeit nationaler Politiken herausfordert. Im Ergebnis führen diese Prozesse dazu, dass die Artikulation von Interessen schwerer geworden ist und der Typus repräsentativer Beteiligung im Vergleich dazu defizitär ist. Vor allem fällt es der Politik schwer, die liberalisierten Märkte zu steuern und für die Gesellschaft wünschbare Ergebnisse zu erzielen. Vor diesem Hintergrund sind die Parteien auch willkommene Sündenböcke für vieles, was man als »Schlechtregiertwerden« (Pierre Rosanvallon) bezeichnet.

Einerseits wird ihnen in Artikel 21 des Grundgesetzes – im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung – eine positive Rolle bei der Gestaltung politischer Prozesse eingeräumt. Andererseits dominieren Exekutive, Expertokratie und nicht majoritäre Institutionen wie die Verfassungsgerichte den Raum des Politischen. Zugleich sind die Zustimmungswerte der Parteien denkbar niedrig. Noch niedriger sind sie bei den »Politikern« als beruflicher Gruppe. Sind die Parteien also eigentlich ein absterbender Teil des politischen Systems, der sich historisch überlebt hat und seine verfassungsgemäßen Aufgaben nicht mehr richtig erfüllen kann?

Tatsächlich ist die Lage nicht ganz so eindeutig, wie es die Krisendiskurse vermuten lassen. Die Stärke der Krisendiskurse besteht zwar darin, dass sie die Schwächen und Dysfunktionalitäten des Status quo sensibel identifizieren können, gleichwohl lassen sich daraus meist keine klaren Handlungsanweisungen ableiten. Trotzdem: Ohne das herrschende System parlamentarisch-demokratischer Repräsentation infrage zu stellen, wird man weder dessen Relevanz und Angemessenheit verstehen können, noch die notwendigen Veränderungsprozesse begreifen. Jedenfalls stimmt die Lage der Parteien im Hinblick auf aktuelle Herausforderungen alles andere als optimistisch: Einerseits waren die demokratischen Parteien in Deutschland – wenn auch länger abwehrend als in anderen europäischen Ländern – tatsächlich nicht in der Lage, den Aufstieg des Rechtspopulismus zu verhindern. Unklar ist allerdings, ob sie es nicht wollten oder gar nicht konnten. Für beides gibt es Indizien. Andererseits zeigt sich an der möglichen Integration der AfD in das Parteiensystem auch, dass dieses nach wie vor in der Lage ist, auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen zu reagieren, um spezifische Repräsentationslücken zu schließen.

Woher rührt eigentlich die Idee, dass Parteien überhaupt als repräsentationsfähige Einheiten wirken und vertrauenswürdige Beziehungen stiften können? Diese Fähigkeit geht auf ihre Genese aus sozial-moralischen Milieus zurück, die durch Konflikte im Zuge von Industrialisierung, Nationalstaatsbildung und staatlicher Säkularisierung im 19. Jahrhundert geprägt worden sind. Daraus resultierten Bindungen und gesellschaftliche Verheißungen, womit eine auf Parteienkonkurrenz zwischen linken, katholisch-klerikalen, konservativen und liberalen Ideen beruhende Vermittlerrolle zwischen segmentierten gesellschaftlichen Milieus und dem Staat ermöglicht wurde. Das alles existiert heute nur noch rudimentär, in Spurenelementen; jedenfalls sind diese Bezüge weder als Inszenierung noch als wirklich belastbarer, also repräsentationsfähiger Parteienwettbewerb vorhanden. Auch wenn die Parteien weder »alternativlos« noch »zerstörungsresistent« (Ulrich von Alemann) sind, so ist ihnen ihre Veränderungs- und Transformationsfähigkeit auch nicht abzusprechen. Dass Parteien einem ständigen Wandel ihrer organisatorischen, programmatischen und funktionalen Dimensionen ausgesetzt sind, dafür steht nicht zuletzt der beachtliche Wandel des Parteiensystems, der idealtypisch mit Begriffen wie Honoratioren-, Massenintegrations- und Volksparteien, professionalisierte Fraktions- oder Wählerparteien beschrieben wurde. Sie können sich und ihre Funktionen also ändern. Doch reicht dies?

Was tritt an die Stelle der Volksparteien?

Eines steht auf jeden Fall fest, die Volksparteien alten Typs sind Geschichte. Doch was tritt an ihre Stelle? Wer leistet die notwendige Vermittlungsarbeit zwischen Gesellschaft und Staat? Wenn es um Alternativen zu den Parteien geht, dann fällt der Blick meist auf die Bürgergesellschaft und ihre vielen alten und neuen Initiativen sowie Organisationen. Sie entlasten den Staat, wirken als Frühwarnsystem für neu entstehende Konflikte, Interessen und Bedarfe und sind damit im besten Sinne responsiv. Sie sind schneller, fluider, weniger hierarchisch organisiert. Sie mobilisieren authentische Antworten aus den jeweiligen Konfliktlagen heraus und sind damit Ausdruck lebendigen gesellschaftlichen Engagements. Aber sind sie damit schon in der Lage, den Parteienwettbewerb zu ersetzen und dauerhaft konstitutiv für Politik zu sein? Sind diese Formen der Politik nicht zu diskontinuierlich, partikularistisch, sozialselektiv und damit zu unpolitisch, um eine belastbare, bindungsfähige Vorstellung von der Gesellschaft als Ganzes zu formulieren? Wenn man sich anschaut, wer sich in diese Aktivitäten einbringt, fällt zudem auf, dass dies in vielen Fällen ein Querschnitt akademischer Mittelschichten ist, dass die unteren Schichten hier keine angemessene Berücksichtigung finden.

Eine andere Alternative, die immer schon einmal genannt wird, sind auch die Verbände. Ist es nicht denkbar, dass sie als kraftvolle Akteure, die die primären Interessen in der Gesellschaft formulieren, an die Stelle der Parteien treten? Historisch spielten solche Überlegungen beispielsweise in der katholischen Soziallehre in Gestalt der berufsständischen Ordnung eine Rolle, wo es die Ausschüsse der Berufe sein sollten, die vermittelt über ihre Organisationen den politischen Prozess konstituieren. Eine Demokratie auf der Basis von Assoziationen wird auch von dem Korporatismustheoretiker Philippe C. Schmitter gelegentlich in die Debatte geworfen. Was spricht dagegen? Vor allem die abnehmende Handlungskompetenz von Verbänden, die sich nicht nur im Rückgang von Mitgliedern zählen, Repräsentations- und Verpflichtungsfähigkeit ausdrückt, sondern in einer reduzierten Integrationsfähigkeit, womit das partikulare Moment in diesen Organisationen eher zu- als abnimmt, sodass eine von den Verbänden ausgehende Vermittlung zwischen partikularen und universellen Interessen eher unrealistisch erscheint.

Schließlich spielt als Antipode zur vermittelnden Rolle der Parteien in der repräsentativen Demokratie auch die Idee einer aufgewerteten direkten Demokratie eine wichtige Rolle. Ihre Bedeutung ist in den letzten Jahren nicht nur im öffentlichen Diskurs enorm erhöht worden. Sie hat vor allem auf der kommunalen Ebene bereits einen regelrechten Siegeszug hinter sich. Ins Stocken geraten ist die Begeisterung für einen umfassenderen Einsatz insbesondere durch drei Entwicklungen: Erstens wurde deutlich, dass mit diesem Instrument nicht nur Fortschritte erzielt, sondern auch soziale und demokratische Rückschritte besiegelt werden können, wie beispielsweise in Hamburg mit der Schulpolitik geschehen. Zweitens sind diese Verfahren majoritär ausgerichtet und deshalb wenig sensibel für Minderheitenanliegen. Zudem fällt die Beteiligung an direktdemokratischen Verfahren eher sozial selektiv aus; die unteren Schichten beteiligen sich an diesen Abstimmungen seltener als an allgemeinen Wahlen. Drittens wird die Forderung nach mehr direktdemokratischen Verfahren vor allem von der rechtspopulistischen Politik präferiert, weil sie darin eine Chance sieht, ihre Anliegen zu emotionalisieren und die Komplexität hinter politischen Entscheidungen zu reduzieren. Kurzum: Plebiszitäre, direktdemokratische Elemente, vor allem auch deliberative Verfahren, können sicherlich auf bürgernahen Ebenen eine Ergänzung zu anderen Formen der Meinungs- und Entscheidungsbildung bieten. Sie bilden aber nicht nur aufgrund ihres punktuellen Charakters, sondern vor allem auch wegen ihrer sozial selektiven Dimension keine Alternative zu den Parteien und ihrer Fähigkeit umfassende Ordnungsentwürfe zu präsentieren.

Alle genannten Alternativen sind Scheinalternativen. Würden sie das Maß der Dinge bilden, dann würde dies die Demokratie radikal verändern und reduzieren: Denn sie beteiligen weniger, banalisieren und emotionalisieren seriöse Debatten um komplexe Problemlagen und produzieren mehr soziale Ungleichheit. Gleichwohl müssen die Parteien diese Akteure und Instrumente wegen ihrer auch vorhandenen Vorzüge professioneller für ihre eigene Arbeit nutzen. Auch wenn allen diesen Scheinalternativen die Fähigkeit abgeht, die Gesellschaft als großes Ganzes zu denken und die partikularen Anliegen dort einzuordnen, können sie mit einer entsprechenden Einbettung dazu beitragen, dass die Parteien ihre universelle Ordnungsfunktion besser erfüllen können. Insofern geht es nicht darum die Parteien zu ersetzen, sondern ihre Rolle neu, präziser und zeitgemäßer zu bestimmen. Dazu gehört: Der Einfluss der Parteien ist reduzierter als in ihren Hochzeiten. Das ehrlich anzuerkennen, ist die Basis für neue Schritte. Und ihre Handlungsfähigkeit lässt sich nur verbessern, wenn sie sich um weitere Reformen kümmern, um die Logik gesellschaftlicher Interessenpolitik in ihrem Kontext zu stärken. Dazu beitragen können mehr partizipative Elemente wie Urwahlen, eine veränderte Personalrekrutierung und bessere Formen der gesellschaftlichen Einbettung etc. Dazu gehört vor allem der Dialog mit jenen Kräften aus der Gesellschaft, die soziale Innovationen schaffen. Nicht ignoriert werden sollten auch die Akteure, die das politische System kritisch beobachten, um demokratische Spielregeln im Sinne der Gesellschaft einzufordern. Wenn die Parteien ihre gesellschaftliche Orientierung stärken und an ihrer Orientierungsfunktion arbeiten, haben sie eine Chance, weiterhin im Spiel zu bleiben. In diesem Sinne sind die genannten Verfahren und Akteure keine Alternativen zu den Parteien, allerdings können einzelne Aspekte von den Parteien genutzt werden, um ihre vitale gesellschaftliche Verankerung zu stärken.

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