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Mobilisierungen im Wahljahr Würselen ist überall

Martin Schulz wird in Nordrhein-Westfalen als Kanzlerkandidat mit der Zweitstimme direkt wählbar sein. Er wird auf Platz eins die Landesliste der SPD für die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag zieren. Den Namen der Kanzlerin sucht man auf der CDU-Liste vergeblich. Sie hat ihren Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern und führt dort auch die Landesliste an. Das ist keine Randnotiz. Denn mittlerweile kennen wir aus der Wahlforschung die sogenannten »Layout-Wähler«. Sie machen die Stimmabgabe auch von der Gestaltung des Wahlzettels abhängig: Wer oben auf dem Papier steht, wird deutlich eher angekreuzt als weiter unten Platzierte. Das ist sicher nicht wahlentscheidend, aber ein Platzvorteil für die SPD in NRW, die der Landtagswahl am 14. Mai entgegenfiebert

Normalerweise sind landsmannschaftliche Zugehörigkeiten nur in Ausnahmefällen wahlentscheidend. Auf der Bundesebene spielte dies nur bei den bayerischen Spitzenkandidaten Franz-Josef Strauß (1980) und Edmund Stoiber (2002) eine Rolle, mit denen eine Mobilisierung im Norden der Republik nie gelang. Martin Schulz verschafft der NRW-SPD im Landtagswahlkampf starken Rückenwind. Ob er Hannelore Kraft über die Ziellinie als stärkste Fraktion bringt, ist unklar. Aber Personen machen gerade im Wahlkampf einen besonderen Unterschied. Wer ist Schulz? Die Neugierde führt zu besonderer Aufmerksamkeit. Sie ist die Machtprämie in einer Aufregungsdemokratie. Ohne Präsenz keine Mobilisierung. Anders wären die vielen Wahlplakate gar nicht zu erklären, die einige Wochen vor dem Wahltermin den öffentlichen Raum dominieren. Für Wähler vermischen sich immer mehr die Ebenen der Wahl. So wird auch in Düsseldorf viel stärker als früher im Bewusstsein der Wähler über Berlin oder auch internationale Ereignisse mitentschieden

Der Kanzlerkandidat der SPD kommt gebürtig aus NRW. Auch der letzte Kanzlerkandidat der SPD von 2013, Peer Steinbrück, hatte seinen Wahlkreis in diesem Bundesland und war von 2002–2005 sogar dessen Ministerpräsident. Bei der Bundestagswahl konnte allerdings kein Steinbrück-Bonus für die SPD in NRW gemessen werden. Auch Steinbrück startete mit überbordenden Erwartungen und sehr guten Umfragewerten, die er am Ende aber nicht einlösen konnte. Ist eine Wiederholung möglich? Im direkten Vergleich mit Schulz wird schnell erkennbar, dass spätestens am rheinischen Singsang des aktuellen SPD-Kanzlerkandidaten jedem Zuhörer der Unterschied zum hanseatisch geprägten Steinbrück auffällt. Schulz hat eine Aufsteiger-Biografie vorzuweisen, die ihn im Labor des Ruhrgebiets zum Kumpel macht. Für Kraft ist Schulz ein ersehntes Bonbon. Zudem fremdelt sie weniger mit ihm als mit Sigmar Gabriel. Strauchelt allerdings Kraft, dann ist die Bundestagswahl für die SPD bereits im Mai verloren

Martin Schulz wirkt auf Zuhörer wie ein vertrauter Nachbar. Würselen ist überall. Das kommunale Basislager der Demokratie hat ihn geprägt. Im Blick auf die Bundespolitik verfügt der Langzeit-EU-Parlamentarier über den Charme des Anti-Etablierten. Er hatte in der Berliner Republik nie einen sichtbaren politischen Job. Er kann konfrontieren, muss nicht kooperieren. Andererseits hat er alle wichtigen internationalen Entscheidungen mit der Türkei, in der Flüchtlingspolitik oder beim Euro zusammen mit Bundeskanzlerin Merkel ausgehandelt und zu verantworten. Über welche Zukunftskompetenz im Bereich der Innenpolitik und der sozialen Sicherheit verfügt Schulz? Darüber wissen wir bislang wenig. Als »Mister Europa« hat er zudem alle gegen sich, die nicht mehr Europa wollen, sondern Halt im Nationalen suchen

Jede strategische Mobilisierung von Wählern muss sich von der Idee rationaler Wähler mehr denn je verabschieden. Das hängt auch an der medialen Vermittlung von Politik, die sich strukturell verändert hat und auf sehr verschiedene Generationen von Öffentlichkeit trifft. Denn vor allem die neuen Medien fördern Konjunkturen des Verdachts. Sie füllen Echokammern von Gleichgesinnten. Moralischer Autismus bleibt unter sich. Wer so lebt, ist nicht mehr zugänglich für Argumente, sondern nur noch für Bestätigung. Die Sehnsucht danach nimmt zu, wenn alles global undurchschaubar und unsicher erscheint. Irgendjemand sollte dann Schuld haben. Idealerweise die etablierte Politik mit all ihren Strukturen, Formaten, der besonderen Sprache und den bekannten Politikern. Empirische Fakten haben das Weltbild solcher Wähler noch nie gestört. Unter den Voraussetzungen moderner Kommunikation scheint allerdings das Zeitalter der Fakten vorbei zu sein. Die Herrschaft der inneren Widersprüche dominiert auf dem Wählermarkt

Rational der Irrationalität begegnen

Die Wahlforschung kennt schon lange kognitive Dissonanzen beim Wähler, der versucht, unterschiedliche Einstellungen und Meinungen, die nicht miteinander zu vereinbaren sind, in Wahlstimmen zu übersetzen. Protestparteien eignen sich hervorragend, um solche stabilen Ambivalenzen auszuleben. Die AfD ist eine zukunftsängstliche Empörungsbewegung, die es geschafft hat, soziale Unzufriedenheit und kulturelles Unbehagen zu bündeln. Die Flüchtlingsthematik ist der Begriffscontainer dieser Protestpartei. Darin bündeln sich die Widersprüche, was vor allem in Mecklenburg-Vorpommern zu studieren war. In diesem Bundesland gibt es objektiv Wohlfahrtsgewinne bei gleichzeitig minimalsten Chancen zur Begegnung mit Flüchtlingen bzw. dem Islam. Dennoch wurden diese Themen angstbesetzt zum Wahlkampfschlager und Mobilisierungsgaranten. Diese Wirklichkeitsverweigerung ist absolut legitim, stellt jedoch sowohl die Wahl- und Parteienforschung als auch insgesamt die Demokratie vor komplett neue Herausforderungen. Denn auf Protest kann man reagieren. Er ist existenziell für die Dynamik von Demokratien. Aber wie erreicht man mit Argumenten existierende Echokammern? Wie rational kann man der neuen Irrationalität begegnen?

Neue Konstellationen deuten sich auch an, wenn in Viel-Parteien-Parlamenten traditionelle Bündnisse nicht mehr Garanten für Mehrheiten sind. Denn die Wähler entscheiden 2017 nicht über die Zusammensetzung der kommenden Bundesregierung. Diese Wahl treffen alleine die Parteien. Denn je koalitionsoffener sie agieren, desto wahrscheinlicher tragen sie die neue Regierung. Nur mit der AfD will niemand koalieren. Alle anderen sind bereit für bunte und Viel-Parteien-Koalitionen. Die Union war bislang in optimaler Weise multi-koalitionsfähig. Sie könnte in einem erwartbaren Sechs-Parteien-Parlament doppelt siegen: als stärkste Fraktion und in der Schlüsselposition für die Regierungsbildung. Gute Wahlergebnisse sind nicht mehr entscheidend, um mitregieren zu können. Wichtiger ist, die Koalitionsoptionen pragmatisch möglichst offen zu halten. Mehrheiten können sich mit einer »Obama-Strategie« ergeben: durch das Sammeln von Minderheiten

Bis vor Kurzem ähnelte Vieles der Wahl von 2009. Die kleinen Parteien profitierten von der großen Koalition. Denn solche Sonderformate des Regierens führen meist unweigerlich zum Ausfransen an den politischen Rändern. Sie schwächen die Großen und stärken die Kleinen

Dieses Mal hat der »Schulz-Effekt« die Lage verändert. Personen machen eben den Unterschied aus und führen im aktuellen Fall zum Wettbewerb um Inhalte in der politischen Mitte. Dennoch wird sich keine Partei vorab in einseitige Koalitionsaussagen verstricken. Für die Wähler wird der Stimmzettel so zum Lotterieschein. Denn wer künftig nicht nur rechnerische, sondern belastbare politische Mehrheiten sucht, muss sich auf dem Koalitionsmarkt tummeln

Bundeskanzlerin Angela Merkel kandidiert zum vierten Mal, lautet damit die Wählerfrage: Merkel plus X? Ihr Popularitätspanzer ist seit September 2015 brüchig geworden. Offene Grenzen und globaler Einwanderungsdruck werden ihr von vielen Wählern persönlich angelastet. Aus dem Kanzler-Bonus ist ein Merkel-Malus geworden. Dennoch könnte sie ab September mit der stärksten Fraktion aktiv Koalitionspartner für eine neue Regierung suchen. Deutlich abweichend vom herkömmlichen Spiel der Koalitionäre stellt sich der Parteienwettbewerb seit letztem Jahr dar. Das Zeitklima des Wählens hat sich seit der letzten Bundestagswahl grundlegend gewandelt. Parteien sind ein Abbild der Gesellschaft. Die Angst vor Entgrenzung steigt. Globalisierung hat im Moment einen schlechten Lauf. Eine Sehnsucht nach Begrenzung, nach normativer Übersichtlichkeit ergreift die politische Mitte

Noch immer gruppiert sich das Parteiensystem in Deutschland um drei große Konfliktlinien in der Gesellschaft: Entscheidende Fragen sind erstens die nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, zweitens die nach kulturellen Differenzen der politischen Partizipation (libertär oder autoritär) und drittens die nach dem relativen Gewicht von Staat und Markt. Doch 2017 kommt noch eine vierte wichtige gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkungsmächtig neu hinzu, die bereits die letzten Landtagswahlergebnisse bestimmte. Es ist das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitarischen Werten. Dies beschreibt das Spannungsfeld zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Die AfD vertritt bisher die Interessen der Globalisierungsverängstigten, die sich im Protest mobilisieren lassen. Die AfD ist Unmutsaufsauger und Frustventil dieser Verunsicherten. Alle anderen Parteien bieten im Moment nur geringe Ankerpunkte, um dies zu bündeln

Das Parteiensystem ist in Deutschland extrem dynamisch. Schließen traditionelle Parteien machtarrogant bestimmte Themen aus – wie vor einiger Zeit die Dimension digitaler Lebenswelten – entstehen neue Parteien, sogenannte Defizitparteien. Um auf dem Wählermarkt zu punkten, holen die anderen Parteien aber relativ zügig auf. Sie surfen auf den Erfolgswellen der neuen Partei. Sie sind Themendiebe. Parteien sind zudem extrem lernfähig. Anders als bei den Piraten als Typus einer Defizitpartei gibt es im Umgang mit den Erfolgen der AfD jedoch weitaus höhere Hürden und komplexere Lernkurven, um die Erfolgsthemen der AfD zu übernehmen. Da ist zunächst in Teilen rechtsradikales, antisemitisches, völkisches Gedankengut, was keine etablierte Partei übernehmen wird. Da finden sich Volksverhetzung und Gewaltaufrufe, für die das Strafrecht gilt. Hier zeigen sich die traditionellen Parteien geschlossen abwehrbereit

Lernen können die anderen Parteien jedoch vom Duktus in Alternativen zu denken. Wieso gab und gibt es angeblich keine Alternativen zum Eurorettungskurs? Wieso können einige EU-Länder Grenzen schließen und andere nicht? Wieso lassen sich nicht Lösungen anbieten, die unbegrenzte Freizügigkeit von Personen einhegen? Wieso werden Bürgermeister überhört, die mit der Ghettobildung durch Migranten überfordert sind? Auch der Brexit kam im Mainstream der etablierten Parteien nicht vor. Mit ihm setzt nun ein Umdenken durch Lerneffekte bei den im Bundestag vertretenen Parteien ein. Weitere Erfolge der AfD werden deshalb maßgeblich vom Agieren der anderen Parteien abhängig sein. Und da gibt es aktuell viel zu beobachten

Wer politische Alternativen nicht denkt, stärkt die AfD

Das gilt vor allem für moralische Höhenflüge der Mitte-Parteien. Wer das in großen Teilen antipluralistische Programm der AfD kritisierte, tat dies bislang immer im Gestus des Besserwissers. Populistische Parteien sind nicht nur anti-elitär nach dem Motto: »Wir gegen oben!« Sie sind auch anti-pluralistisch, weil sie das »Wir« immer nur auf sich selbst beziehen. Hinter dem »Wir« verbirgt sich danach der wahre Volkswille. Doch auch liberale Demokraten, die das offene Gesellschaftsmodell verteidigen, verfallen ebenso oft in moralisch abgrenzende Kategorien, die herablassend auf protestbereite Wähler wirken. So sollte der Satz »Wir schaffen das!« die gleiche moralische Qualität haben, wie die Umkehrung »Wir schaffen das nicht!«. Dass sich alle Alternativen nur im Kontext des Grundgesetzes und damit der Menschwürde bewegen, begrenzt normativ den Gedankenraum, aber sicher nicht die politische Lernkurve. Im Moment ist spürbar, wie sich das neue Denken in Alternativen, ohne Hypermoral der »Gutmenschen«, ausbreitet. Die etablierten Parteien übernehmen keineswegs das antipluralistische Freund-Feind-Denken der AfD, aber die etablierten Parteien prüfen – vor allem in den Landtagen – ihre Standpunkte, sie suchen den politischen Streit

Die AfD-Wähler aus der Mittelschicht sind emotional verlässlich. Ihre Mitglieder sind robust im Aushalten von Konflikten. Diese Partei wird gewählt, obwohl das Personal weitgehend unbekannt ist und das Programm widersprüchlich daherkommt. Sie lebt von der Provokation der anderen Parteien, die ihr fast täglich auch diesen Gefallen tun, sich provozieren zu lassen. Die AfD agiert mit fliegenden Zielen, je nachdem, womit man Tabubrüche spontan erzielen kann. Eurorettungskritik, Flüchtlingszahlen, Anti-Islam – bis zur Bundestagswahl werden sich noch viele Themen als en vogue herausstellen

Die AfD agiert nicht nur auf den Wellen einer anti-elitären Wut, nutzt einen anti-pluralistischen Impuls, sie definiert auch, wer drinnen und wer draußen sein sollte, wer dazugehört und wer nicht. Bei den bislang etablierten Parteien sind die Guten immer die Europäer, die Schlechten sind diejenigen, welche Halt im Nationalen suchen. Aber auch diese Arroganz der moralisierten Mitte, die Heimatverbundenheit als rückständig kritisiert, verliert Stück für Stück an Wirkungsmacht. Das spricht nicht gegen gute Gründe einer europäischen Vergemeinschaftung. Doch die etablierten Parteien versuchen, verloren gegangenes Terrain zurückzuerobern und mit den Themen sozialer sowie innerer Sicherheit nationale Kompetenzfelder zu besetzen. Das sind angemessene Antworten auf einen Beschleunigungsschub. Die europäische Integration wird seit dem Brexit deutlicher politisiert. So könnte es den etablierten Parteien gelingen, Wählern eine Heimat abseits des Protests zu bieten

Offene Gesellschaften sind liberal. Das setzt aber immer politisierte Alternativen voraus, über die laut gestritten werden muss – auch über nicht plausible Argumente. Jeder öffentlich ausgetragene Konflikt schwächt die AfD, wenn Alternativen zwischen Inländern und Inländern diskutiert werden. Die AfD könnte im fluiden Parteiensystem an Zustimmung verlieren, nicht durch Anbiederung oder therapeutische Hilfsversuche der anderen Parteien, die Angst-Mitte zu verstehen, sondern durch Abrüsten des moralischen Hochmuts. Populistische Volksbelauscher überrascht man mit argumentativer Augenhöhe, neugierigem Zuhören und mutiger Zuversicht. Voraussetzung bleibt allerdings, dass sich das potenzielle Wählerklientel überhaupt noch einer öffentlichen Auseinandersetzung stellt

Der Parteienwettbewerb 2017 wird zu den zentralen Themen der inneren, äußeren und sozialen Sicherheit dosiert ideologischer und polarisierter ausfallen als bei der letzten Wahl. Das Gesellschaftsmodell ist für viele spürbar von innen und außen unter Druck geraten. Demokratischer Trotz mobilisiert. Das kann engagierter, profilierter, lagerzentrierter und lauter erfolgen, ohne jedoch die Problematik möglicher Bündnisse auszublenden. Die Wähler spielen bei allen Modellen einer zukünftigen Regierung nur eine sehr marginale Rolle. Aber das ist der Preis, der anfällt, wenn der Parteienwettbewerb bunter, vielgestaltiger, mobiler und koalitionsoffener geworden ist. Es liegt an uns, noch nachdrücklicher die Parteien zu zwingen, Koalitionsoptionen offen zu legen

 

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