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Geschlechterspezifische Betrachtungen eines emotionalen Kontrollverlustes Wut oder Hysterie?

Der Name Karin Struck sagt heute vielen nichts mehr. Dabei erregte die 1947 bei Greifswald geborene und 2006 in München gestorbene Schriftstellerin gleich mit ihrem Debütroman »Klassenliebe« viel Aufmerksamkeit. Später brach sie nach einer harschen Kritik von Marcel Reich-Ranicki beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt in Tränen aus. Unvergessen dann ihr Auftritt in der NDR-Talkshow vom 3. Juli 1992: Neben Karin Struck sitzt die Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel. Sie ist an der Reihe und spricht über Abtreibungsgesetze, während die bekennende Abtreibungsgegnerin Karin Struck ihr wiederholt ins Wort fällt und polemische Bemerkungen macht. Bald wird es dem Moderator zu bunt und er weist sie höflich, aber bestimmt darauf hin, dass er Merkel eine Frage gestellt habe, worauf Struck bellt: »Wollen Sie mir einen Maulkorb verpassen?!« Schon springt sie auf und fummelt unbeholfen an ihrem Mikrofonkabel herum, zieht sich dabei den Rock bis über die Unterhose hoch, schmeißt das Kabel wütend weg, fegt Gläser und anderes vom Tisch und stampft als geradezu klassische Verkörperung einer in Rage geratenen Frau zum Ausgang. Mit ihren langen wirren Haaren wirkt sie so, wie man sich landläufig eine Hexe vorstellt.

Weibliche Hysterie – männliche Wut

Ihr Auf- bzw. Abtritt gehört zu den seltsamsten der deutschen Fernsehgeschichte. Heute fragt man sich, ob das Ganze so peinlich und unangemessen wirkt, weil hier eine Frau ausrastet und kein Mann. Wahrscheinlich würde man in Strucks Fall weniger von Wut als von Hysterie sprechen, womit das Pathologische schon eingeschrieben wäre. Männer sind wütend, Frauen hysterisch, was auch daran liegt, dass es bis heute so ist, dass Wut Männer männlicher, Frauen aber unweiblicher erscheinen lässt.

Die alten Rollenbilder schleifen sich nur langsam ab. Wann erlebt man im öffentlichen Raum wutentbrannte Frauen? Und wie oft Männer, die austicken, weil sie betrunken sind oder krank oder weil sie es einfach wollen. So nimmt es nicht wunder, dass wütende Frauen auch in der Welt der Kunst ein Schattendasein führen, allerdings unterbrochen von herrlichen Ausnahmen. Allen voran die schmissige Videoarbeit »Ever is over all« der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist aus dem Jahr 1997. Darin läuft eine hübsche Frau in einem himmelblauen Kleid eine Straße entlang, vorbei an einer Reihe parkender Autos. In der Hand hält sie eine langstielige Schwertlilie, die sie unvermittelt und in Zeitlupe wie einen Baseballschläger in die Autoscheiben donnert. Dazu lächelt die Frau so siegesgewiss und zufrieden wie Landfrauen beim Aufgehen ihres Hefezopfs. Es ist kein Zufall, dass die Frau auf dem Video schlank und schön ist und dass sie lacht. Ihr Lachen setzt einen Kontrapunkt zu ihrer Wut. Die ist auch deswegen als unweiblich verschrien, weil sie die Gesichtszüge verzerrt, aus schönen Frauengesichtern Fratzen macht.

Wellen der Frauenbewegung

Dabei ist Wut ein Phänomen, das mit jeder Welle der Frauenbewegung neuen Schwung erhält. Die Suffragetten zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpften noch für basale Rechte und rückten auf ihrem Feldzug für die Gleichberechtigung auch Kunstwerken in Museen mit Marmelade und Hackebeil zu Leibe. Das erinnert an heutige Protestformen der sogenannten Letzten Generation. In der zweiten Welle der Frauenbewegung, die in Deutschland mit dem Namen Alice Schwarzer verbunden ist, erschienen auf dem Buchmarkt zahlreiche Titel über weibliche Aggression. Frauen wurden ermuntert, ihren Frust raus zu brüllen, ihrer Wut freien Lauf zu lassen und sich vermeintlich unflätig zu verhalten. Unvergessen bleibt in diesem Zusammenhang wiederum ein Talkshowauftritt. Alice Schwarzer geriet 1988 mit dem Schauspieler Klaus Löwitsch aneinander. Um ihm zu demonstrieren, dass Frauen und Männer noch längst nicht gleichberechtigt seien, lümmelte sie sich genau so breitbeinig wie er ins Sofa, was Löwitsch so unlustig fand, dass er die Sendung verließ.

»Verzogene Gören« gegen hyperangespasste »Tradwives«.

Letzten Sommer wiederum wurden junge Frauen, die sich lustvoll danebenbenehmen, so genannte Brats, auf Deutsch in etwa verzogene Gören, zum großen Aufregerthema: »Summer of brat«. Angefangen hatte ihn die Musikerin Charli XCX mit ihrem gleichnamigen Album »brat«. Ganz nach der ollen Postkartenweisheit der Schauspielerin Mae West: »When I’m good, I’m very good, but when I’m bad, I’m better.« Man darf gespannt sein, wie das weitergeht. Gegenbewegungen wie die der hyperangepassten Tradwives, die in den sozialen Netzwerken damit prahlen ihre Männer in der frisch geputzten Küche mit Braten auf dem Tisch zu empfangen, gibt es ebenso zu beklagen wie erfolgreiche Romane für junge Leserinnen, die ein vorgestriges Frauenbild propagieren.

In diesem Spannungsfeld landen die »Angry Girls« des japanischen Künstlers Yoshitomo Nara wie unbekannte Flugobjekte. Auf den ersten Blick handelt es sich um kleine böse Mädchenmonster im Comicformat, bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als ambivalent schillernde Selbstporträts des Künstlers. Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden kann man ihre Wut und ihren Schmerz erkunden. Es ist die erste Retrospektive des Künstlers in Deutschland, wo er lange gelebt hat. Der 1959 geborene Nara gehört zu den Stars des internationalen Kunstbetriebs, und selbst diejenigen, die mit seinem Namen nichts verbinden, haben seine ikonischen Kindergesichter schon einmal irgendwo gesehen. In Baden-Baden sind sie eingebettet in sein Gesamtwerk, das die eigenen Traumata mit dem Pinsel in der Hand zu bewältigen sucht. Gleich am Eingang der Ausstellung starrt uns auf dem Gemälde ein Kind in einem grünen Oberteil entgegen, seine schmalen Schultern hängen herunter, seine Augen sind riesengroß. Darin schwimmen Tränen wie Aquarelle. Der Mund ist nicht viel mehr als ein welliger Strich. Der Titel »No means No« lässt eine Schandtat vermuten, der Blick ein Entsetzen, das keine Worte braucht.

»Fuck you«

Für andere Werke arbeitet Nara auch mit Text, sendet eindeutige Botschaften, etwa auf dem Bild »Dead Flower«, das ein Mädchen mit Säge in der Hand zeigt, dem Blut aus dem gefräßigen Maul tropft. Eine gemeuchelte Blume liegt am Boden und auf dem Kleidchen des Kindes leuchtet der blutrote Schriftzug »Fuck You«. Die Beschimpfung hätte es nicht gebraucht, der Blick sagt alles. Andere Gesichter leuchten wie Madonnen, und das Bild »To Young to Die« zeigt ein freches rauchendes Mädchen, das wie ein französischer Filmstar wirkt und uns einen Blick so kalt wie Stahl zuwirft. Viele der Werke beziehen ihren Reiz aus dem Zusammenprall von Kindchenschema und Gewalt.

»Punkrock – trotz ›Pussy Riot‹ und anderer Ausnahmen eine immer noch männlich geprägte Szene.«

Nara spielt mit dem in Japan beliebten Kawai-Stil, der auf niedliche Kindermotive setzt. Bei ihm geht es aber um Protest und um Rebellion, um Weltschmerz und um Verletzungen des inneren Kindes. Die Rebellionsgesten seiner Figuren sind oft politisch motiviert, richten sich gegen Krieg, Atomkraft, Umweltkata­strophen. Nara selbst spricht davon, dass die Kinder in den meisten Fällen sein aktuelles Ich darstellten, Variationen von ihm selbst seien. Über seine Kindheit als Sohn berufstätiger Eltern sagt er im Katalog: »Ob ich rebellierte oder nicht, war egal; niemand hätte es gemerkt. Sie hatten keine Ahnung, wie ich in Wirklichkeit war. Ich liebte Musik und Mädchen. Ich fühlte mich total frei – aber auch verlassen.« Auf der Seite des Museums gibt es eine Playlist und auch in der Schau ertönen Songs, viel Punkrock darunter, subversive Musik. Trotz »Pussy Riot« und anderer Ausnahmen eine immer noch männlich geprägte Szene. Beim Stichwort Wut in der Musik denkt man heute an den US-amerikanischen Rap-Star Kendrick Lamar; und Rockstars, die Hotelzimmer verwüsten, stellt man sich zwangsläufig männlich vor. Wo bleibt die Wut der Frauen?

Das durfte man sich auch bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises im vergangenen Jahr fragen. Als Martina Hefter und ihr Roman Hey guten Morgen, wie geht es Dir? mit dem Preis bedacht wurden, stapfte der Autor Clemens Meyer kurz darauf aus dem Saal, schimpfend, mutmaßlich wütend, weil sein ebenfalls nominierter Roman Die Projektoren nicht das Rennen gemacht hatte. Man kann sich wirklich schlecht vorstellen, dass Martina Hefter das im umgekehrten Fall gemacht hätte. Weil sie eine Frau ist? Oder weil sie ein zurückhaltender Mensch ist, der seine Emotionen im Griff hat? Sicherlich würden auch Frauen zuweilen gerne stampfend rausgehen, erlauben es sich möglicherweise aber nicht, weil sie um die Konsequenzen fürchten. In seiner spontanen Impulsivität erinnert Meyers Abgang an Karin Strucks eingangs erwähnten Fernsehauftritt. Der Unterschied: Meyer wird nicht nur verlacht, sondern für sein Aus-der-Reihe-Tanzen offen bewundert.

»Ist ›die‹ Frau ein zurückhaltender Mensch, der seine Emotionen im Griff hat?«

Frauen indes fürchten bei Wutanfällen nicht nur um ihre schönen Gesichtszüge, sondern auch die Abwertung ihrer Person. Die US-amerikanische Psychologin Victoria Brescoll fand mit ihren Kollegen heraus, dass man Wut und Ärger bei Frauen eher auf ihre Persönlichkeit schiebt, bei Männern eher auf die äußeren Umstände. Ferner bestätigten sie den Verdacht, dass Frauen, die Wut zeigen, vermehrt mit negativen Konsequenzen rechnen müssen, Männer hingegen im besten Fall sogar Applaus dafür ernten.

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal wiederum erläutert in einem Interview mit dem Kunstmagazin Monopol, dass uns wütende Menschen zwar nicht sympathischer seien, wir aber dazu neigten, sie ernster zu nehmen, weil wir mit Wut Durchsetzungskraft und Dominanz assoziierten. Zumindest wenn es sich um wütende Männer handelt, möchte man hinzufügen. »Wer wird denn gleich in die Luft gehen«, fragte hingegen jahrzehntelang die Zigarettenmarke HB. Die entsprechende Comicfigur ihrer Reklame war natürlich ein Mann, beziehungsweise ein Männchen.

Yoshitomo Nara, Museum Frieder Burda Baden-Baden. Bis 27. April 2025. Der Katalog zur Ausstellung kostet 39 Euro. www. museum-frieder-burda.de.

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