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Interventionen für die Kultur Zauber, Zweifel und Zuversicht

Warum Kunst und Kultur auch in Zeiten von Corona nicht auf den Prüfstand gestellt werden dürfen, zeigt der Sammelband Kann das wirklich weg. 57 Interventionen für die Kultur.

Wie groß die Folgen des pandemischen Elends tatsächlich sind, das durch ein winziges Virus hervorgerufen wurde, ist längst noch nicht abzusehen. Die gesellschaftliche Praxis, die Sprache, der Habitus, die Wirtschaft, die nationalen und internationalen Beziehungen sind seit dem Ausbruch der Pandemie einem Veränderungsprozess unterzogen, der auch vor Kunst und Kultur nicht Halt macht, der allerdings, so konstatieren Marion Ackermann, Jörg Bong, Carsten Brosda und Gesine Schwan im Vorwort von Kann das wirklich weg? nicht erst mit der Coronapandemie eingesetzt hat, sondern wie so vieles von ihr lediglich katalytisch befördert worden ist. Welche Bedeutung, so fragt der Band, misst die Gesellschaft Kunst und Kultur in einer technisierten, ökonomisierten und merkantilen Welt eigentlich noch bei?

Seit dem ersten Lockdown Mitte März 2020, so die vier Herausgeber in ihrem Vorwort, habe sich die Situation für Kunst und Kultur, für Künstlerinnen, Künstler und Kreative noch einmal drastisch verschlechtert. In Beschlüssen zur Corona-Eindämmung fänden sich Kunst und Kultur plötzlich in einer Reihe mit Spaßbädern, Fitnessstudios und Bordellen wieder – als nachrangige Freizeitaktivität, Zerstreuung, bestenfalls Erbauung, die es erst wieder braucht, wenn das Überleben gesichert ist.

Dabei sei ganz das Gegenteil der Fall: Um zu verstehen, warum wir leben, wie wir lebten seien Literatur, Musik, Theater, Tanz, bildende Kunst förderlich, gar unverzichtbare Garanten eines guten Lebens, und auf diese, vermittelte Weise auch politisch relevant.

Wie Kunst und Kultur die Vielfalt des Besonderen abbilden und es ermöglichen, im Sinne der Herausgeber dazu beitragen in einer demokratischen, diversen und pluralen Gesellschaft im Geiste Adornos ohne Angst verschieden sein zu können, und wie sich diese unermessliche Energie im Einzelnen manifestiert, zeigen die einzelnen Beiträge. Einige von ihnen hängen auf entwaffnende Weise unmittelbar am Erleben ihrer Urheber, wie etwa der des Musikers Norbert Leisegang von der Band Keimzeit. In seinem Text heißt es: »März 2021. Ich bin weit davon entfernt, einschätzen zu können, wohin es in diesem Jahr und den folgenden mit den schönen Künsten in unserer Gesellschaft gehen wird. Ich beobachte lediglich, nehme wahr und notiere, was mir wichtig erscheint. In diesen Tagen wird oft eingeschätzt, wer die Gewinner oder Verlierer der Pandemie sind. Künstler, soweit ich sie kenne, scheren sich nicht darum, das heißt, sie regen sich furchtbar auf und arbeiten dann einfach weiter, was sie im Übrigen schon immer getan haben. Und genau das mache ich auch«. Andere Beiträge nehmen übergeordnete Standpunkte ein.

Es geht in den Texten unter anderem um Kinderkultur als »Kultur der Zukunft« (Kirsten Boie), um die demokratische Kraft, die von Museen ausgeht (Uta Bretschneider), um die verbindende Kraft der Musik (Bettina Böttinger), das »akustische Archiv« aus Songs (Carsten Brosda), in dem aus der Erinnerung an subjektives Erleben von Musik an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten Möglichkeiten zur Aktualisierung des Vergangenen liegen, um daraus resultierende proustsche Momente, die das individuelle Erleben affirmieren oder befragen, die das (pandemisch) profanierte Leben (wieder-)verzaubern.

Der Band lässt bisweilen auch zornige Töne hören, wie den der Schriftstellerin Renan Demirkan, die mit Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker einen Roman vorgelegt hat, der inzwischen zu den Klassikern der deutschen Literatur zählt, und die sich in ihrer Einlassung gegen eine Spaltung von Mensch und Kultur wendet: »Der Mensch ist Kultur« weiß Demirkan, doch die Grenzen der Kunst sind deutlich zu spüren, wenn es um Krankheit oder gar Tod geht und »dass kein fühlendes und denkendes Wesen ins Theater gehen will, wenn die Mutter im Sterben liegt. Oder ein Buch liest, während das Kind ins Koma versetzt wird. Und ich kenne keine Künstlerin und keinen Künstler, die oder der das Publikum nötigen würde, seinen Schmerz oder seine Trauer zu ignorieren, um eine Vorstellung, ein Konzert oder eine Ausstellung zu besuchen.«

Die Beiträge, sämtlich von Kunst- und Kulturschaffenden oder -verantwortlichen, sind in aller Verschiedenheit aber immer Plädoyers für die freie Entfaltung von Individuen, zugleich eine Forderung und entschiedene Behauptung der Notwendigkeit des Miteinanders.

Machen wir nach der Lektüre etwa der Hälfte des Bandes probehalber das Experiment, das die Schriftstellerin Karen Köhler vorschlägt: »Denkt euch diese Texte und dieses Buch hier weg. Texte, um die wir gebeten worden sind. Texte, für die wir nicht bezahlt werden, unsere Arbeit, die nicht bezahlt wird, die wir aber trotzdem machen, weil wir es für notwendig halten und für den Raum kämpfen wollen, den Kunst und Kultur auch in Zukunft einnehmen sollen. Eine Gesellschaft, die meint, so etwas schriebe und denke sich doch von selbst, unterschätzt die Basis, die wir sind: Wir sind Beweger*innen. Wir erforschen die Zukunft. Wir loten zwischen Schmerz und Freude für euch aus. Wir gehen an Orte, an die ihr nicht könnt. Wir heben Schätze an Oberflächen für euch. Wir inspirieren euch von Anfang an. Wir geben euch Humor und Orientierung, regen euch an zu Empathie und Gedanken.«

Wir stellen nach dieser Probe fest: Das Experiment ist nicht durchführbar. Bei allen Spuren, die Phasen der digital bereitgestellten Minimalversorgung mit Kultur in Zeiten des Lockdowns hinterlassen haben, beantwortet der Band seine titelgebende Frage mit einem klaren: Nein. Kunst und Kultur sind Lebensmittel. Eine deutliche Sprache spricht das Buch auch, wenn es um Präsenz und Nähe, die Öffentlichkeit, geht: »Menschen verschwinden, indem sie uns nicht mehr öffentlich, außer im Supermarkt oder beim Friseur, erscheinen. Selbst die Anzahl der Telefonate nimmt ab. Es herrscht ein Rückzug in Höhlen vor. Gleichzeitig erhöht sich die Zahl der nur technisch produzierten Begegnungen in Bild und Ton. Die vorgeblich nützliche Digitalisierung entzieht uns aber Berührung und tatsächliche Nähe«, schreibt der Schauspieler Burghard Klaußner in seinem Beitrag und benennt damit den vielleicht neuralgischsten Punkt der Pandemie, an dem sich Kultur- und Gesundheitspolitik nicht mehr trennen lassen, den der existenziellen Notwendigkeit, sich als Individuum mit anderen im Analogen, im Raum zu erfahren. Nicht zuletzt Einlassungen wie diese machen Kann das wirklich weg? zu einer zum Nachdenken höchst anregenden Lektüre über die Erkenntnispotenziale der »ziellosen Forschung der Kunst« (Wolfgang Tillmans).

Marion Ackermann/>Jörg Bong/Carsten Brosda/Gesine Schwan (Hg.): Kann das wirklich weg? 57 Interventionen für die Kultur. Ch. Links, Berlin 2021, 240 S., 20 €.

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