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Bücher über den Bildungsaufstieg zweier junger Frauen Zugleich zu laut und zu leise

Im Jahr 1977 erschien ein Buch mit dem Titel Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht von Ursula Scheu. Darin untersuchte die Psychologin und Soziologin, wie das biologische Geschlecht die Erziehung von Kindern beeinflusst. Wenn Frauen und Männer unterschiedlich gehen, fühlen und arbeiten, hängt es maßgeblich mit der jeweiligen, geschlechterspezifischen Erziehung zusammen. Wenngleich sich seit den 70er Jahren einiges geändert hat, sind diese Verhaltensunterschiede nach wie vor bemerkbar.

Folgenreich für das Verhalten eines Menschen im Erwachsenenalter ist aber auch sein jeweiliges Herkunftsmilieu. Von zwei Büchern, die 2020 erschienen sind und über das Finden der eigenen Rolle unter den Vorzeichen von Geschlecht und Milieu nachdenken, ist im Folgenden die Rede: Frausein der 1976 in Sulingen geborenen Mely Kiyak, die als Schriftstellerin, Journalistin und Kolumnistin bekannt wurde, und Streulicht der 1988 in Frankfurt am Main geborenen Deniz Ohde, die für ihren Debütroman mit dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

Stichwort »Roman«: Wenngleich Kiyaks Buch essayistischen Charakter hat, während Ohde deutlich auf den fiktionalen Charakter ihres Textes verweist, liegt ein Vergleich nahe. Denn beide Autorinnen erzählen die Geschichten eines Bildungsaufstiegs und davon, wie schwierig es ist, der eigenen Stimme zu vertrauen, sie zu stärken, zu verteidigen, umso mehr, wenn man, wie in Kiyaks Fall als Gastarbeiterkind kurdischer Einwanderer aufwächst, oder wie im Fall der Protagonistin in Deniz Ohdes Roman aus einer deutsch-türkischen Ehe stammt und sich als Arbeiterkind in der Welt behaupten lernen muss, mit einem alkoholkranken Vater, der »Messie« ist, und 40 Jahre seines Lebens als Arbeiter 40 Stunden in der Woche Aluminiumbleche in Laugen tunkt, mit einer Mutter, die als letztgeborenes Kind einer Frau in den Mittvierzigern aus der Türkei nach Deutschland emigriert ist – ohne Geburtsdatum, aber von der eigenen Mutter vielfach verprügelt, verachtet, abgelehnt.

Während in der kurdischen Familie von Mely Kiyak die Bildung der Kinder von den Eltern entschieden und über den eigenen Horizont hinaus massiv gefördert wird, während der Vater nicht nur als fürsorglich und liebevoll, sondern auch als anteilnehmend an der Entwicklung der Tochter mit der schwachen Konstitution und einer starken Sehbehinderung beschrieben wird, schildert Streulicht zwar auch Gesten der Zuwendung des Vaters zur Tochter. Sie bleiben aber meist auf das Gestische und einige wenige, hilflos ausgesprochene Worte beschränkt. In der Familie überhaupt miteinander zu sprechen, über wichtige Dinge zu sprechen, erscheint in Streulicht weitaus deutlicher noch als in Frausein als Ding der Unmöglichkeit.

Anpassung und Gegenwehr

Umso eindrucksvoller liest sich, mit welcher Kraftanstrengung es Deniz Ohdes Hauptfigur schließlich doch gelingt, sich aus ihrem Milieu herauszubewegen. Das Mädchen, das ohne Mahlzeiten am Familientisch aufwächst, das schlimme Streitigkeiten der Eltern miterlebt und auszublenden lernt, bricht die Schule zunächst ab. Über den Weg der Abend- und Gesamtschule gelingt es Ohdes Hauptfigur dann aber trotz zumindest latent rassistischer Bemerkungen, trotz Übergriffen und offener Ungerechtigkeiten, die Abiturprüfung mit Erfolg abzulegen.

Ein Maß für sich selbst zu finden, für die eigenen Talente und Grenzen, sich anzupassen und sich doch zu wehren, ist dabei eine der schwierigsten Übungen, etwa, wenn der Referendar die 22‑Jährige schlechter zensiert (»Sie sind schon älter, deswegen gebe ich ihnen eine schlechtere Note, als sie eigentlich verdient hätten«) und die Protagonistin das hinnimmt, trotz der bohrenden Ungerechtigkeit. Dass Ohdes Hauptfigur darauf nur ein »Was?!« herausbringt, zu mehr Widerspruch nicht imstande ist, zeigt ihre Hilflosigkeit.

Wie Ohde nach diesem Zwischenfall ihre Erzählerin darüber räsonieren lässt, woher ihr »Vorteil« kommen sollte, ob aus den gleichen Unterrichtsmaterialien, dem Sitzenbleiben, dem Schulabbruch, macht die Kluft zwischen der Selbstwahrnehmung der Protagonistin und der misstrauischen Fremdwahrnehmung des Referendars, die Unsicherheit der Figur den Lesern schmerzhaft nachvollziehbar: »Wofür war ich alt genug. Wann war ich alt genug geworden. Wo war der Übergang gewesen zwischen noch etwas schwächlich, zu leise, nicht richtig, manche hier wollen wohl nicht selber denken und alt genug« und verweist stellvertretend auf ein weiteres Phänomen, nämlich kein Maß für die eigenen Fähigkeiten und Grenzen verinnerlicht zu haben: »Ich soll mein Licht nicht unter den Scheffel stellen. (…) Niemand hatte sich je Zeit genommen, den Scheffel ausfindig zu machen, unter dem mein Licht stand; der Scheffel war der Satz selbst, der Scheffel waren die Wände, gegen die nachts die Aschenbecher flogen, der Scheffel war ›Sei still‹ und ›Sprich lauter‹, zwei Forderungen, die ich gleichzeitig erfüllen sollte. Paradox oder nicht, schlussendlich war es meine eigene Schuld, dass ich ihnen nicht Folge leisten konnte.«

Das Zitat zeigt: Ohdes Erzählerin muss nicht nur mit dem mangelnden Maß für eine realistische Einschätzung der eigenen Talente fertig werden, sondern auch mit dem diffusen und unbegründeten Gefühl, selbst schuld an diesem Mangel zu sein. Es sind Passagen wie diese, um derentwillen man heftig ins Nachdenken über Chancenungleichheit gerät und versteht, warum die relative Stärke, die der Protagonistin auch zu eigen ist und aus der heraus sie nicht nur das Abitur besteht, sondern auch ein Studium aufnimmt. Es sind Passagen, die auch an die soziologisch ergiebigen Romane von Annie Ernaux erinnern.

Während die Protagonistin in Deniz Ohdes Roman im häuslichen Milieu bezüglich ihrer Ambitionen, es dank einer besseren Bildung später vielleicht einmal besser zu haben, kaum Rückhalt erfährt, blicken die Eltern in Mely Kiyaks Familie anders auf ihre Tochter. Kiyaks Vater, kurdischer Einwanderer aus der Türkei, gehört zu der Generation der Gastarbeiter, die durch Günter Wallraffs Reportagebuch Ganz unten in der Öffentlichkeit erst sichtbar wurden. Kiyak bemerkt hier treffend, dass es eines verkleideten Deutschen bedurfte, der auf die Situation der Gastarbeiter aufmerksam machen musste: »Wir wurden erzählt«, und verweist auf eine gewisse Demütigung, die Wallraffs emanzipatorischem Projekt innewohnt.

Wie schmal der Grat zwischen Demut und Demütigung ist, wird deutlich an einer Anekdote, die Kiyak ebenfalls erzählt. Die Mutter, Putzfrau im Amtsgericht, bekommt regelmäßig vom Amtsrichter dessen Pausen-Teewurstbrötchen geschenkt. Sie nimmt es mit nach Hause und zwingt ihre Kinder dazu, es vor dem eigentlichen Abendbrot zu essen, als eine »Übung in Demut«. Die Folge ist ein Verstummen, wie es auch Ohde auf der Suche nach dem eigenen Maß schildert. Bei Kiyak liest es sich so: »So wurde ich darauf konditioniert, mich zu fügen. Mit diesen Übungen. Schweigen, nicht protestieren. Keinen Ärger machen. Jede Interpretation und Deutung über uns unkommentiert zur Kenntnis nehmen. Aufessen.«

Anders als Ohdes Protagonistin kann Kiyak einen weiteren Schluss ziehen, was das hilfreichste eigene Verhalten anlangt, um möglichst wenig anzuecken: »Der Umwelt nicht durch Befindlichkeiten, sondern durch Leistungen auffallen.« Und so »leistet« und »leistet« die Autorin ihre Pflicht, sie liest, lernt, sie schluckt nicht nur die Kränkungen des Sportlehrers, der sie zweideutig bedrängt, sondern verschweigt auch die Schläge, die Gewalt, der sie als Studentin in einer ostdeutschen Stadt ausgesetzt ist: Ein fremder Mann prügelt die junge Frau nieder, weil er die heiß begehrte öffentliche Telefonzelle nutzen will, in der Kiyak ihren Vater anrufen möchte: »Ich liege auf dem Boden und habe das Gefühl, dass ich mich nicht in meinem Leben befinde. Meine Hilferufe verlieren sich in der kalten Luft. Da ist keine Kraft in den Stimmbändern.« Die Menschen, die in der Telefonwarteschlange stehen, greifen nicht ein, helfen nicht. Dass es auch an ihrem Status als Migrantenkind liegt, so ungeschützt zu sein, bringt Kiyak zu dem Schluss: »Die Gemeinschaft sprach zu mir, dass ich ein ungeschütztes Mitglied bin. Das unbedeutende Kind unbedeutender Eltern. Ein Ali-Kind. Ein belangloses Ereignis, das auf der Straße liegen gelassen wird.«

Stehen, liegen, fallen gelassen werden, kein Maß zu kennen, das zwischen zu leise und zu laut unterscheidet, den eigenen Körper als etwas häufig Befremdliches und zu Versteckendes wahrzunehmen – diese Erfahrungen verbindet die beiden Erzählerinnen von Frausein und Streulicht dann doch. Beide Bücher zeigen: Der migrantische oder teil-migrantische Familienkontext behindert häufig bis regelmäßig die Ausbildung eines zuverlässigen Selbstwertgefühls, selbst wenn seitens der Eltern Unterstützung vorhanden ist.

Das, so mag man hier einwenden, erleben auch viele Jungen, die aus einem solchen Kontext heraus einen Bildungsaufstieg anstreben. Doch wird anhand der beiden Bücher deutlich, wie durch die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, die Hürden, die es dabei zu nehmen gilt, höher sind. Sowohl in Ohdes, als auch, in weit stärkerem Maße, in Kiyaks Buch potenziert das Frausein nicht selten die Zweifel, die Unsicherheit, den Eindruck von Wehrlosigkeit der beiden Erzählerinnen.

Dies zu überwinden, die eigene Stimme zu erheben bzw. erhoben zu haben, macht beide Bücher zu einer eindrucksvollen Lektüre, im Schildern aller Widrigkeiten und Härten auch zu Dokumenten eines Fortschritts. Es braucht nicht mehr, wie zu Beginn der 80er Jahre einen Günter Wallraff, der sich in Verkleidung Zutritt zu einem bestimmten Milieu verschafft, um dessen Alltagswirklichkeit zu erkunden.

Und wenngleich der Preis hoch ist, den beide Erzählerinnen entrichten müssen, um ihre eigene Stimme zu hören, ihren eigenen Ton zu erkennen, haben sie sich ein gutes Stück weit emanzipiert. Kiyak wird eine erfolgreiche Journalistin und Kolumnistin, die sich für ein Leben als Schreibende entscheidet. Deniz Ohdes Hauptfigur verlässt, wenngleich zögerlich, ihr Milieu und beginnt, obwohl reichlich orientierungslos, ein Studium.

»Ich schreibe. Das ist alles, was ich tue. Ich wollte keine Frau sein, die Kinder hat und schreibt. Keine, die eine Ehe führt und schreibt. Keine, die eine andere Tätigkeit ausführt und auch schreibt. Ich wollte nicht von allem etwas, sondern von dieser einen Sache alles. Wenn mich jemand fragt, was machst Du, wollte ich antworten: Ich schreibe«, liest man bei Kiyak. Wie man die Kraft der Worte einsetzt, hat Kiyak von ihrer Großmutter gelernt: »Sie konnte durch die Kraft ihrer Sprache ganze Sippschaften entehren«. Ohdes Protagonistin fehlt ein solches role model. Man möchte in einem Gedankenexperiment das Buch Frausein der Protagonistin von Streulicht in die Hand drücken, die am Ende des Romans weniger hoffnungsfroh ihr Milieu verlässt, wenngleich ihr Maß an Stärke und Entschlusskraft eine ähnliche Entwicklung ahnen lässt. Man möchte beide Bücher nicht nur all jenen jungen Frauen ans Herz legen, die sich nach einer guten Ausbildung sehnen, ganz gleich, woher sie kommen und wie sie aufwachsen, sondern auch all denjenigen, denen nicht klar ist, wie ungleich die Start- und Bildungsbedingungen je nach Geschlecht und Milieu noch immer sind und welche Folgen sich daraus ergeben.

Mely Kiyak: Frausein. Hanser, München 2020, 126 S., 18 €. – Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020, 284 S., 22 €.

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