Menü

Über die Rolle des Biografischen in der Literatur Zwischen Blitz und Donner

Allzu häufig kommt es im Literaturbetrieb nicht (mehr) vor, dass ein Buch oder eine Veranstaltung derart heftige Diskussionen auslöst, ja regelrecht für Aufruhr sorgt, wie es im Mai dieses Jahres bei der traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesung der Fall war. Eingeladen worden war der 1966 in der Schweiz geborene, heute in den USA lebende Christian Kracht, um über sein Schreiben zu sprechen. Kracht, der 1995 mit seinem Romanerstling Faserland, einer bitterbösen Deutschlandreise, schlagartig zum schillerndsten Autor der Popliteratur wurde und heute als einer der Erfolgreichsten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gilt, polarisiert. Seine Bücher werden bei Erscheinen stets heftig diskutiert. Seine Auftritte in der Öffentlichkeit sind selten und gehen stets mit großer Zurückhaltung vonstatten, insbesondere, wenn es um Privates und Biografisches geht. Kracht kontrolliert die Veröffentlichung seines Werks sehr genau, gilt als Virtuose der Selbstinszenierung.

Auch bei seinem Auftritt im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel »Emigration« wurde Kracht seinem Ruf gerecht. Die Plakate, die sein Kommen ankündigten, zeigten ihn wettergegerbt, sein Porträt erinnerte an Fotos des Erfolgsautors Karl-Ove Knausgård. Kracht verfügte, dass keine Mitschnitte von der Vorlesung angefertigt werden, dass das Skript der Vorlesung, entgegen der Gepflogenheiten des Formats, nicht vorher an die Journalisten ausgegeben und (bis auf Weiteres) nicht gedruckt wird.

Am Beginn der ersten Vorlesung stand ein Bekenntnis. Doch zunächst brachte Kracht seine »unendlich tiefe Angst«, vor Publikum zu sprechen zum Ausdruck. Er werde von einem Skript ablesen, um nicht zu klingen wie ein »autistischer Säugling« – eine captatio benevolentiae, mit der der Autor sich als paradoxerweise auf der »Bühne«, in der öffentlichen Redesituation im Hörsaal, als bühnenuntauglich in Szene setzt und so im Vorlauf versucht, das Wohlwollen des Publikums zu erheischen.

Zur Vorbereitung auf die Vorlesung so Kracht, habe er alle seine Bücher noch einmal gelesen. Durch diese Aussage rückte er sich in gewisser Weise in die Rolle des Lesers, trat seine Autorschaft ein Stück weit in den Hintergrund, was, so könnte man sagen, die potenzielle Bereitschaft des Publikums erhöhte, sich auf die Situation noch bereitwilliger einzulassen, als es im Rahmen einer Poetikvorlesung ohnehin der Fall sein dürfte.

Anschließend berichtete Kracht von dem sexuellen Missbrauch, den er als zwölfjähriger Junge im kanadischen Lakefield College durch den 2009 verstorbenen Father Keith Gleed erfahren, in der Erinnerung aber über Jahrzehnte hinweg als »false memory« abgespeichert hatte. Er schilderte, wie er als einer von zahlreichen Schülern des Internats in die Gewalt des Geistlichen geriet, der die Internatszöglinge zunächst durch Freundlichkeit für sich einnahm, um sie anschließend zu missbrauchen. Der Schüler Kracht wurde gezwungen, die Hose ausziehen, dem Pastor den nackten Hintern zuzudrehen, sich mit Schlägen malträtieren zu lassen und dann Geräusche vernahm, die darauf schließen ließen, dass der Pastor sich selbst befriedigte. Nie habe er sich umgedreht, so Kracht, er habe die Erfahrungen in den »Tümpel der Erinnerung« verbannt. Der Versuch, sich am Telefon Hilfe bei den Eltern zu holen, verpuffte. Sie deklarierten die Schilderungen des Sohnes als Auswüchse seiner kindlichen Fantasie und trugen dazu bei, dass die reale Erfahrung ins Phantasmatische verschoben wurde.

Kracht setzte die erste Vorlesung fort, indem er seine eigenen Romane vor diesem Horizont neu deutete. Unter Bezugnahme auf Klaus Theweleits Männerphantasien aus dem Jahr 1977, der die Frage nach der Bildung von faschistischem Bewusstsein und die soldatische Prägung des Ichs ins öffentliche Blickfeld rückte, erklärte er, wie der ins Unbewusste verschobene Missbrauch von dort heraus dazu geführt habe, seine Romanhelden zum großen Teil als Personen vom »faschistischen Typ« zu inszenieren, die durch Prügel und militärischen Drill ein sekundäres Ich in Form eines »Körperpanzers« erworben haben. Mavrocordato oder Christopher aus 1979, Masahiku Amakasu aus Die Toten entsprächen fast idealtypisch dem faschistischen, soldatischen Ich, das Theweleit analytisch beschreibt.

Krachts Ausführungen wurden zu Recht als schockierende Enthüllung wahrgenommen. Ein Erfolgsautor als #MeToo-Opfer – die Reaktionen waren heftig und zahlreich. Im Hinblick auf das Bekenntnis sollte man jedoch im Auge behalten, dass in Krachts Schilderung Zeitungsartikel der Auslöser für die Einsicht waren, tatsächlich missbraucht worden zu sein, den Missbrauch aus der Sphäre des Traumatischen in die Sphäre des Sagbaren zu verschieben.

In seiner zweiten Vorlesung relativierte Kracht den traurigen Ernst seines Bekenntnisses: »Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie, auch diese Vorlesungsreihe«. Die Anwesenden und die Leser der Berichterstattung über die Poetikvorlesung konnten schier mit Händen greifen, wie sich die Betroffenheit angesichts des schwerwiegenden Missbrauchsbekenntnisses ein Stück weit in Irritation verwandelte, angesichts eines »Grenzgang[s] zwischen Offenbarung und (juristisch sanktionierter) Verbergung«, wie die Literaturwissenschaftlerin Claudia Dürr die Redesituation treffend in ihrem online nachlesbaren bilanzierenden Text »Dabeisein ändert alles? Die Aufregung um Christian Krachts Poetikvorlesung in der Mediennachlese« beschrieben hat.

Was blieb und bleibt, waren offene Fragen, waren Reaktionen der Betroffenheit und des Zweifels gleichermaßen, war auch die Frage, ob man nun also, wie ich es selbst nach dem Besuch der ersten Vorlesung angenommen und vertreten habe, das Werk Krachts neu und auf der Folie dieser schrecklichen biografischen Umstände neu lesen soll?

Jeder Autor tritt gleichermaßen als existierende und sozial verantwortliche Person in die Öffentlichkeit und als Produzent eines Diskurses. Die Äußerungen von Kracht zum Missbrauch sind also auf zwei Ebenen lesbar, einmal als Bekenntnis der existierenden Person Kracht und deren Beitrag zur nachvollziehbar stark emotional aufgeladenen Diskurses über Missbrauch im Kontext der #MeToo-Debatte. Indem Kracht sich in seiner Vorlesung auf einen die Medien beherrschenden Diskurs derart bezog, als er ihn zum Auslöser der Entdeckung seiner eigenen Missbrauchserfahrung erklärte, machte er das Publikum einerseits darauf aufmerksam, wie stark mediale Einflüsse wirken können, und wie durch diese Debatte die Frage stärker in den Vordergrund tritt, inwiefern sich die Rezeption von Kunst und Literatur vom Ästhetischen ins Moralische verschiebt – eine Frage, die in der Folge von #MeToo vorher in Artikeln wie »What Do We Do with the Art of Monstrous Men?« von Claire Dederer in the Paris Review vom November 2017 oder in »Geniale Monster« von Hanno Rauterberg in der ZEIT (6/18) wiederholt aufgeworfen worden war.

Die Ungewissheiten, die Krachts Vorlesung in ihrem Wechsel aus Bekenntnis und Geheimnis, aus eigener und fremder Rede, hinterlassen, können also unter anderem dazu führen, in der Literaturkritik und in der literarischen Interpretation die Trennung von Autor und Werk, von biografischen Realien und ästhetischen Eigengesetzlichkeiten nicht vorschnell ineinander zu verschränken, das sprechende Ich eines Textes nicht mit einem sprechenden Ich eines literarischen Textes gleichzusetzen.

Auch Bodo Kirchhoffs jüngster »Roman der frühen Jahre« Dämmer und Aufruhr, ein autobiografisches Werk, in dem von Missbrauch die Rede ist, und der, anders als Krachts Romane, offen autobiografisch ist, da der Autor und der Erzähler den gleichen Namen tragen, stößt aus einer anderen Richtung solche Überlegungen an. Er beginnt mit der Frage: »Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt, sagt Es war einmal?« Die Frage bringt mit der Erzählformel »Es war einmal« das märchenhafte Moment zum Ausdruck, das jeder, insbesondere aber der literarischen Erinnerung innewohnt, auch und, so muss man sagen, gerade wenn sie den Anspruch transportiert, eine Wahrheit zu ergründen. Kirchhoffs Roman ist, wie Krachts Poetikvorlesungen, eine höchst empfehlenswerte Lektüre, wenn es darum geht, sich das ganze Differenzierungsvermögen literarischen Erzählens zu vergegenwärtigen und das komplexe Wechselverhältnis von Ästhetik und Moral genauer zu beleuchten. In Dämmer und Aufruhr ist das Schreiben ein unablässiger Versuch, der das Ziel stets verfehlen muss, um dessen Erreichen der Schreibende aber ständig ringt. Er ringt um Worte, die eine »sprachlose Wahrheit« fassen, »eine Brücke zum Wahrscheinlichen« schlagen. Literatur ist in ihrem Oszillieren zwischen Fiktion und Faktischem Ausdruck von Aufruhr, sie ruft, indem sie die Spannungen zwischen Empirie, Erinnerungen und Einbildungskraft im Medium der Sprache differenziert betrachtet, den Aufruhr hervor. Darin liegt, jenseits aller an die Person des Autors gebundenen Posen und Inszenierungen, ihr Vermögen – eine Vorstellung, die auch Christian Kracht in seiner ersten Poetikvorlesung und in einer anderen Tonlage artikulierte, als er aus Walter Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« zitierte: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten«. Benjamin leitete daraus ab: »In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Ein Text ist der lang anhaltende Donner«.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben