Mit dem Ausbruch der Coronapandemie wurde sichtbar, wie es um die Situation in der Pflege bestellt ist. Zwar wurden die CarearbeiterInnen in Krankenhäusern, der Altenbetreuung und im Erziehungssektor als systemrelevant eingestuft, wurde ihnen eine Weile lang von Balkonen aus applaudiert. Doch sie werden weiterhin schlecht bezahlt, arbeiten mit knappsten Pflegeschlüsseln; Fachkräfte fehlen. Diese Situation wird sich weiter zuspitzen, wenn sich an der Ausbildung, der Arbeitssituation und auch der Zuwanderungspoltik nicht grundlegend etwas ändert. Darauf weist die Soziologin Christa Wichterich im Artikel »Care-Arbeit: Aufwerten statt abwerben« in den Blättern für internationale Politik vom Oktober 2024 hin, und nennt erschreckende Zahlen: Momentan seien 115.000 Vollzeitstellen im Pflegesektor unbesetzt, Berechnungen des Statistischen Bundesamtes sagten voraus, dass unter den jetzigen Bedingungen dieser Mangel bis zum Jahr 2049 auf 280.000 bis 690.000 Pflegefachkräfte ansteige. Schon jetzt kommen Pflegende, Angehörige und diejenigen, die administrativ tätig sind, regelmäßig in Nöte, nicht nur in entsprechenden Einrichtungen, sondern auch im privaten Umfeld.
Wie sich die Realität der mit Pflege Betrauten gestaltet, spiegelt sich auch in Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Drei sollen hier vorgestellt werden: Frédéric Valins Ein Haus voller Wände spielt in einer Betreuungseinrichtung, Martina Hefters Hey guten Morgen, wie geht es Dir? erzählt (auch) von häusliche Pflege, Katja Oskamps Marzahn, mon amour schildert die Care-Arbeit einer Fußpflegerin.
Ringen um nicht diskriminierende Sprache
2021 veröffentlichte der 1982 geborene Frédéric Valin zunächst die Pflegeprotokolle, Erfahrungsberichte von Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten. Gesammelt hatte er sie während der Coronapandemie: Menschen wurden isoliert, die schlechte Bezahlung und die für Pflegende und Gepflegte unwürdigen Bedingungen verschärften sich. 2022 erschien sein Roman Ein Haus voller Wände, in dem Valin seine Erfahrungen als Betreuer einer Wohngruppe fiktionalisiert. Dem Erzähler Lukas, Anfang 30, fällt das Sprechen nicht leicht: »Ich spreche in diesem Buch von ›Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung‹, weil mir nichts Besseres einfällt. […] Es muss eine Lösung geben, die beides ermöglicht: über diese Menschen als Individuen zu sprechen und dabei die spezifischen Bedingungen, die die Bezeichnung ›geistige Behinderung‹ mit sich bringt, nicht zu vergessen.«
Das Ringen um eine nicht diskriminierende Sprache ist lediglich ein Problem. Lukas wird klar, dass auch die gesellschaftlich akzeptierte Form einer als angemessen geltenden Betreuung fragwürdig ist. Ein würdiger Umgang mit den Menschen ist unter seinen Arbeitsbedingungen in der von ihm »Insel« genannten Einrichtung kaum möglich. Die Wohngruppe stellt in der Definition des Soziologen eine »totale Institution« dar; einen Ort, an dem alle Bereiche des sozialen Lebens zusammenfallen: Arbeit, Freizeit, Schlaf und Essen.
Die Wohngruppe ist eine »totale Institution«.
Diese Form der Isolation ist schädlich für die Bewohner, was in der Pandemiezeit noch deutlicher wird: »Einige der Bewohner*innen gehen in Werkstätten, weil es in Deutschland das Dogma gibt, Teilhabe vor allem über die Arbeit herzustellen. Auf der Gruppe sind das zwei Personen: […] Der Preis der Inklusion ist die Ausbeutung der Außenseiter*innen; für den Job, den sie machen, kriegen die beiden ein Taschengeld, monatlich irgendwas um die 150 Euro für 35 Stunden die Woche. Die anderen Leute sind im Grunde ununterbrochen im Haus, Außenkontakte gibt es kaum.«
Lukas versucht, sich auf alle einzustellen: Auf den übergewichtigen Bluter Karl, der fortwährend redet, 15 verschiedene Präparate gegen Epilepsie und die Bluterkrankheit schluckt und von allen lieb gehabt wird; die auf Konfrontation gepolte Barbara, die voller Missgunst auf die anderen schaut; den zwanghaften Johannes, den zurückgezogenen Stefan. Ihm wird klar, dass diese willkürlich zusammengewürfelten Menschen nur über die unspezifische Diagnose ›geistige Behinderung‹ zusammenpassen. Aber ihnen bleibt keine Wahl der Lebensform.
Flucht aus dem Pflegeberuf
Detailliert beschreibt der Erzähler die Missstände: »Es gab keinen Betriebsrat, nur eine Mitarbeitervertretung. Die Tarifverhandlungen sollten einvernehmlich geführt werden, es wurden Kommissionen gebildet, die sich zusammensetzten, um zu einer gemeinsamen Einigung zu kommen. Paritätisch sollten die sein, das heißt, da kamen dann Juristen und BWLer auf der einen und Pflegekräfte auf der anderen Seite zusammen, um gemeinsam zu einer Lösung zu kommen. Man nennt das den »dritten Weg«. Er ist ein Kompromiss aus offenen Tarifverhandlungen und einer einseitig von kirchlichen Arbeitgeber*innen festgelegten Gehaltssumme. Ich bin deswegen jahrelang unter Tarif bezahlt worden.« Lukas verlässt schließlich die Einrichtung. Unter diesen Bedingungen kann und will er nicht weiterhin arbeiten müssen.
Nicht nur die institutionell organisierte Pflege, sondern auch die Carearbeit, die Angehörige verrichten, stellt eine immense Herausforderung dar. Davon erzählt der 2024 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman Hey guten Morgen, wie geht es Dir? der 1965 geborenen Martina Hefter. Juno Isabella Flock ist Mitte fünfzig, geht einer prekären Arbeit als freiberufliche Tänzerin nach: Sie muss trainieren, Fördergelder akquirieren, Auftritte planen. Ihr Mann Jupiter hat Multiple Sklerose, lebt ohne Aussicht auf Heilung.
Lächerliche acht Stufen sind ein Hindernis.
Mit welchen Anstrengungen der Alltag für das doppelt prekär lebende Paar aufwartet, beschreibt die Erzählerin genau: »Jupis rechtes Bein war kaum beweglich, keine Muskelkontrolle, das Knie ließ sich nicht knicken. Man musste die Schuhe entschlossen und sachte zugleich über die Füße schieben. Wenig später wuchtete Juno Jupiter in seinem Rollstuhl in die Straßenbahn. Der neue Nachbar aus der Wohnung gegenüber hatte das schwere, elektrounterstützte Gefährt die acht Stufen von der Haustür zur Straße runtergeschleppt. Lächerliche acht Stufen. Wie üblich wurden Jupiter und sie schon beim Einsteigen in die Straßenbahn von allen Mitfahrenden angeschaut, und wie üblich schaute sie so lange finster zurück, bis die Leute wegsahen. Was dachten die Menschen, die sie so ansahen? Juno fand nie eine Antwort.«
Prüfende Blicke
So prüfend wie die Blicke der Passanten sind auch die auf das Paar im Rahmen der alljährlichen Einstufung durch den medizinischen Dienst der Krankenkasse. Damit Juno für ihre Carearbeit 500 Euro bekommt, wird jährlich neu erhoben, ob sie ausreichend für Jupiter sorgt, sich Jupiters Gesundheitszustand nicht doch verbessert hat. Der Ton wechselt hier zwischen Nüchternheit und Resignation: »Die Frau holte einen Ordner aus ihrer Tasche, schlug ihn auf […]. Dann stellte sie Fragen, sie sah dabei kaum vom Formular hoch, und nach jeder Antwort setzte sie ein schnelles, energisches Kreuzchen. Ob Jupiter sich allein waschen könne. Ob Jupiter sich allein Frühstück, Mittag- und Abendessen zubereiten könne. Ob Juno für Jupiter kochte. Wer Jupiter die Socken anzog. Wer Jupiter die Schuhe anzog. […] Jupi und Juno sagten die Wahrheit, aber logen trotzdem. Wenn sie beide ausschließlich die Wahrheit gesagt hätten, nämlich zum Beispiel dass sich Jupi die Socken meistens allein anzog, weil er nicht wollte, dass Juno ihm half, würde dies Punkteabzug bedeuten. Es geht doch ums Große und Ganze, wollte Juno bei jeder Frage sagen. Ihre kleinen Fragen und unsere kleinen Antworten ergeben überhaupt kein Bild.«
Während Juno der Frau vom Medizinischen Dienst Rede und Antwort steht, verselbständigen sich ihre Gedanken: »Wenn ich nicht da wäre, müsste übrigens ein Pflegedienst kommen, und der Pflegedienst kostet das Doppelte des Pflegegelds. Es geht doch darum, dass ich das Sicherheitsnetz bin. […] Das alles sagte Juno nicht laut, aber die Frau sah trotzdem vom Formular auf.« Diese Passage verdeutlicht auch, dass ein Teil des institutionellen Notstands durch häusliche Pflege abgefedert wird. Offensichtlich ist die Einstufung nicht nur für Juno irritierend und wird doch routiniert abgewickelt: »Sie sind ja beide ganz schön schmal«, sagte die Frau, »Kochen Sie auch ausreichende Mengen?« Pause. Wir sind so geboren, sagte Juno dann. Wir sind schmale Menschen. Ich finde das eigentlich ganz schön. Die Frau sah einen Moment baff aus, dann beugte sie sich wieder über den Ordner mit dem Formular und setzte ihre Unterschrift, langsam und sorgfältig. Sie sagte: Dann wären wir jetzt fertig, und klappte den Ordner zu.«
Als die Frau das Paar verlässt, schlägt Jupiter mit Tränen in den Augen vor, in ein Pflegeheim umzuziehen, was Juno zurückweist. Bei Hefter wird die Anstrengung und Überlastung nicht nur der Sorgearbeitenden deutlich. Auch die mit der Verwaltung und Prüfung von Pflegesituationen Betraute wirken überfordert. Scham macht sich breit.
Ein Beispiel befriedigender Pflegearbeit
Lediglich in Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin der 1970 geborenen Katja Oskamp stellt sich die Care-Arbeit als eine befriedigende dar. Die vierundvierzigjährige Erzählerin befindet sich in einer Midlife- und Work-Crisis. Ihr Beruf als Schriftstellerin erscheint ihr fragwürdig, der Mann ist krank, die Tochter flügge. Sie lässt sich zur Fußpflegerin ausbilden und nimmt anschließend eine Tätigkeit in einem Kosmetikstudio in der Berliner Plattenbausiedlung Marzahn auf.
Von alten Damen bis hin zu pubertierenden Töchtern von Schriftstellerinnen behandelt sie Füße, tritt aber auch mit allen Beteiligten in eine Art freundschaftliches, zum Teil fast seelsorgerisches Verhältnis. Es ist eine wechselseitig befriedigende Situation, die hier erzählt wird. Am Ende des Romans bilanziert die Erzählerin: »Ich habe seit dem Frühjahr 2015 ungefähr dreitausendachthundert Füße gepflegt, das sind neunzehntausend Zehen. […] Meine Liebe ist flüssig geworden und passt in die unwahrscheinlichsten Zwischenräume. Das Bittere, das ich vor mir hertrug, ist verschwunden und mit ihm der letzte Rest jugendlicher Arroganz«.
Dass sich diese Situation von denen der Erzähler bei Valin und Hefter so maßgeblich unterscheidet, hat mehrere Ursachen: Pflegerin und Gepflegte treten aus freien Stücken ins Verhältnis, die Bezahlung ist klar geregelt, die jeweiligen Einheiten sind klar überschaubar und der Betreuungsschlüssel 1:1 paradiesisch im Vergleich zur institutionellen Pflege. Mut macht Oskamps Roman insofern er zeigt, dass Sorgearbeit durchaus erfüllend sein kann, wenn die Bedingungen angemessen und geregelt sind. Er zeigt auch idealtypisch, wie es anders sein könnte, ja müsste in diesem Sektor.
Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 224 S., 22 €.
Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin. Hanser, Berlin 2019, 144 S., 16 €.
Frédéric Valin: Ein Haus voller Wände. Verbrecher Verlag, Berlin 2022, 204 S., 14 €.
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