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Berlin-Kreuzberg, ein Mural von dem spanischen Kuenstlerduo PichiAvo ©

picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Stärken und Schwächen des Nationalstaates sind miteinander verwoben Glanz und Elend

Die meist bürgerlichen Leser einer großen Berliner Illustrierten hatten in einer Umfrage 1899 keinen Zweifel: Die Gründung des deutschen Nationalstaates – unter der Führung Preußens und nach einem bejubelten Sieg über Frankreich – sei das größte historische Ereignis des nun zu Ende gehenden Jahrhunderts gewesen. Als das Deutsche Kaiserreich 1871 proklamiert wurde, stand zwar die noch kleine Sozialdemokratie ganz im Abseits, wo sie erzwungenermaßen noch lange blieb. Auch das katholische Deutschland war eher skeptisch, und selbst die Konservativen musste Reichskanzler Otto von Bismarck für seine von den Liberalen gestützte nationale Strategie erst noch gewinnen. Aber in den nächsten Jahrzehnten schritt die innere Nationenbildung kräftig voran, der neue Staat gewann an Legitimität, auch der giftige Nationalismus schwoll an, und 1914 fand der Kriegseintritt Deutschlands breiteste Unterstützung, bis weit in die nun starke Sozialdemokratie hinein.

In der Weimarer Republik rückte das laute Bekenntnis zum Nationalstaat ein Stück weit nach rechts, denn es wurde von Konservativen, Nationalisten und Populisten propagandistisch gegen links in Stellung gebracht, gegen die Begründer und Unterstützer des nun demokratischen Verfassungsstaates, die oft als Verräter Deutschlands verunglimpft wurden, obwohl sie zum großen Teil selbst national orientiert waren. Für Hitlers Machtergreifung war der verbreitete Nationalismus eine wichtige Voraussetzung, sein grenzüberschreitender rassistischer Imperialismus sprengte den Nationalstaat und zerstörte ihn mit katastrophalen Folgen.

Nach 1945 wurde der Nationalstaat oft zum Gegenstand von Kritik und Geringschätzung. Er habe sich im Zivilisationsbruch der vorangehenden Jahre diskreditiert, er wurde als Gegensatz zu Demokratisierung, Völkerverständigung und zur allmählich fortschreitenden Integration Europas gesehen. In den Jahrzehnten der deutschen Teilung bewies überdies die Bundesrepublik, dass sich ein großes Gemeinwesen erfolgreich entwickeln konnte, ohne ein Nationalstaat zu sein. Gegen das langsam an Gewicht einbüßende Lager derer, die am grundgesetzlich verankerten Ziel der nationalen Wiedervereinigung festhielten, er­schien der Nationalstaat vielen, besonders auf der Linken, als historisch überholt, als Auslaufmodell der Geschichte, oder doch: als nicht besonders beachtenswert.

Kraftvolle Renaissance nach 1989

Das hat sich 1989 und danach als falsch herausgestellt. In Deutschland erwies sich das nationale Zusammengehörigkeitsbewusstsein noch als stark genug, um, dies vor allem in der zusammenbrechenden DDR, die Forderung nach Wiedervereinigung zur mächtigen politischen Kraft werden zu lassen, während es in der Bundesrepublik ausreichte, die großen Anstrengungen und Kosten politisch zu legitimieren, die die Realisierung der Wiedervereinigung benötigte. In Ostmittel- und Südosteuropa erlebten nationale Dynamik und Nationalstaat nach 1989 eine kraftvolle Renaissance, mit Frontstellung gegen die – geschwächte – imperiale Herrschaft des Sowjetreichs, aber gemäßigt durch den dringenden Wunsch nach Zugehörigkeit »zu Europa«. Vor allem in Asien und Afrika hatte die Dekolonisierung seit dem Zweiten Weltkrieg an Geschwindigkeit und Verbreitung gewonnen, sie fand ihre institutionelle Form in einer raschen Zunahme von unabhängigen Staaten, die sich nach dem Modell von Nationalstaaten zu konstituieren versuchten.

»Der Nationalstaat gehört nirgendwo zum alten Eisen der Geschichte.«

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und seiner Blockbildung gewannen nationalstaatliche Spielräume und Machtverhältnisse weltweit erneut an Bedeutung, trotz – oder auch wegen? – der zeitgleich rasant voranschreitenden Globalisierung. So sehr auch die internationale und transnationale Verflechtung weltweit zunahm, durch internationale Organisationen ein Stück weit abgestützt wurde und globale NGOs ebenfalls grenzüberschreitend wirkten, so eindeutig wurde doch der Befund, dass der Nationalstaat nirgendwo zum alten Eisen der Geschichte gehört, sondern sich dem Wandel anpasst und überlebt, mit seinen Vorteilen und Nachteilen.

Seit dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist zudem eine Welle rechtsextremer Ideen, Bewegungen und Aktionen grenzüberschreitend in Bewegung geraten, die sich mit populistischen Mitteln gegen die Normen und Institutionen der liberalen Demokratie richtet und in der Politik der meisten europäischen Länder und der USA in jüngster Zeit sehr sichtbar geworden ist. Man kann diese Welle deuten als eine Reaktion auf Erfahrungen in den vorangehenden Jahrzehnten, in denen Liberalisierung, Demokratisierung und Globalisierung dominant waren und zu Veränderungen, Zumutungen und Überforderungen führten, die von breiten Bevölkerungsschichten mit Unbehagen erlebt wurden und mit rechtsgerichteter Systemkritik beantwortet werden. Im modernen Rechtsextremismus spielen Forderungen wie »Deutschland den Deutschen« und »Make America Great Again« eine wichtige Rolle, also die Beschwörung nationaler Interessen, nationalistischer Mythen und xenophober Ressentiments. In diesem bedrohlichen Zusammenhang gewinnt der unabhängige Nationalstaat neue Freunde und Bewunderer weit rechts im politischen Spektrum.

Leistungen

Der Nationalstaat stellt eine besondere Art der Entsprechung von Staat und Staatsvolk dar, auf der Grundlage eines beiden eigenen, klar abgegrenzten Territoriums und verknüpft durch eine nationale Kultur, das heißt durch einen gewollten, praktizierten und erfahrbaren Zusammenhang, in dem historische Erzählungen, Mythen und Erinnerungen, meist auch eine verbindende Sprache, gemeinsame Bildung und geteilte Normen zentral sind. Dieser Zusammenhang wird teilweise durch staatliche Anstrengungen hergestellt, vor allem über Gesetzgebung, das Bildungssystem und Öffentlichkeit.

Besondere Verschränkung von Staat, nationaler Kultur und Staatsvolk.

Nationale Kultur in diesem Sinn ist oft, aber nicht notwendig ethnisch eingefärbt, sie umgreift unterschiedliche soziale Schichten, Klassen und Gruppen und integriert sie ein Stück weit. Sie ist mit einer gewissen, aber nicht unbegrenzten, kulturellen Heterogenität vereinbar. Sie gewinnt ihre Identität und ihre Integrationskraft auch durch die Abgrenzung von Anderen. Sie ermöglicht und erfordert die Loyalität und die Partizipation der insofern gleichen Angehörigen des Staatsvolkes am Staat, wie sie umgekehrt hohe Ansprüche des Staates an die einzelnen Subjekte legitimiert – bis zur Forderung des Einsatzes des eigenen Lebens für das »Vaterland« in Kriegen, und das heißt: in einem Ausmaß, das in vor- und postnationalen Gemeinwesen unerreichbar ist. Aus dieser besonderen Verschränkung von Staat, nationaler Kultur und Staatsvolk erklärt sich zum guten Teil die überlegene Leistungsfähigkeit des Nationalstaates in der modernen Geschichte und seine bemerkenswerte Überlebenskraft bis heute.

Der Nationalstaat entstand im späten 18. Jahrhundert, in der Folge der Amerikanischen und der Französischen Revolution, als Ort der Überwindung von Feudalismus und Kolonialherrschaft von Weißen über Weiße, zugleich mit den ersten Deklarationen der allgemeinen Menschenrechte. Etwas von dieser progressiven Tradition hat sich über zweieinhalb Jahrhunderte erhalten. Die leidenschaftliche Forderung nach nationaler Unabhängigkeit oder/und nationaler Einheit hat sich immer wieder mit dem Kampf gegen überkommene Privilegien, Fremdherrschaft oder Diktaturen, mit dem Streben nach Freiheit, Gleichheit und Emanzipation verbündet: erfolglos in den europäischen Revolutionen von 1848/49, ergebnisreich in der Dekolonisierung des 20. Jahrhunderts, erfolgreich in den mitteleuropäischen Revolutionen von 1989/90, bisher unentschieden im Kampf der Ukrainer gegen den russischen Neoimperialismus.

»Die Grundsätze liberaler Demokratie sind am konsequentesten in Nationalstaaten realisiert worden.«

So unübersehbar es ist, dass das allgemeine Wahlrecht für alle erst mühsam erkämpft werden musste, so bedeutsam ist andererseits, dass das Versprechen der Partizipation aller Bürger (und später auch Bürgerinnen) zur Logik des Nationalstaates gehört. So unvollkommen die Grundsätze liberaler Demokratie auch eingelöst sind, am ehesten und am konsequentesten sind sie in Nationalstaaten realisiert worden, nicht im international-grenzüberschreitenden Bereich. Und soweit es gelungen ist, die Auswüchse des Kapitalismus politisch zu beschneiden und soziale Gerechtigkeit mit politischen Mitteln zu fördern, geschah dies am ehesten in Nationalstaaten. Der Sozialstaat ist in nationalstaatlichen Rahmungen durchgesetzt worden, kaum dagegen transnational oder in kleinen Räumen. Wie der Ehrgeiz, die Konkurrenz und die Dynamik der Nationalstaaten zur Förderung von Wissenschaft, Kultur und Kunst beitragen können, zeigte sich schon an deren Erfolgen im deutschen Kaiserreich, so defizitär dieses in anderen Hinsichten blieb. Der Nationalstaat als Vehikel des Fortschritts? Zweifellos.

Schwächen und Abwege

Doch die Geschichte des Nationalstaates hat ihre dunklen Unterseiten. Zwar zeigen viele Beispiele, dass Nationalstaaten ausgeprägte soziale, ethnische, religiöse und kulturelle Heterogenität beherbergen und verarbeiten können. Wenn sie aber ihre liberale Substanz verlieren, wird die Gefahr sehr groß, dass sich der ihnen eigene Drang zum einheitlichen und zugleich umfassend-eindringlichen Umgang mit ihren Bürgern und Bürgerinnen zum zwanghaften Streben nach Homogenisierung radikalisiert. Das kann zur Unterdrückung von Minderheiten und schließlich zu ihrer Ausgrenzung führen.

An der Geschichte der Polen im preußisch-deutschen Bereich vor und nach der Nationalstaatsgründung lässt sich das zeigen, an der Geschichte der jüdischen Minderheit auch. Überhaupt sind Nationalstaaten gegenüber diktatorisch-totalitären Perversionen weniger immun als traditionelle Reiche oder altmodische Fürstentümer, schon weil sie »Massen« besser mobilisieren können.

Die Liebe zur eigenen Nation und damit zum eigenen Nationalstaat ist sehr oft in die Abwertung, Verachtung und Bekämpfung anderer Nationen, ihrer Angehörigen und ihrer Staaten umgeschlagen. Schließlich konstituiert sich nationalstaatliche Identität durch Abgrenzung von anderen, die zur gewalttätigen Ausgrenzung werden kann. So wie Nationalstaaten fast niemals ohne Kriege entstanden sind, so durchgehend hat der in ihnen kaum vermeidbare Nationalismus zur Feindschaft zwischen den Völkern und zur Entstehung von Kriegen beigetragen.

Das zeigte sich schon in der Frühzeit, etwa am Umschlagen des utopischen Fortschrittsglaubens der Französischen Revolution in die blutigen Kriege, mit denen Napoleon fast ganz Europa überzog; oder im Franzosenhass des entstehenden deutschen Nationalismus. Auch sei hier an den Zusammenhang zwischen chauvinistischen Leidenschaften und dem Ausbruch der Weltkriege des 20. Jahrhunderts erinnert; und an die Verwendung nationalistischer Argumente, wenn es galt und gilt, grenzüberschreitende Aggression und den Erwerb von Imperien zu begründen.

»Das Streben der Nationalstaaten nach Selbstständigkeit und ihr Bedarf nach Konkurrenz mit anderen steht der Entstehung größerer Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge im Wege.«

Schließlich ist nicht zu übersehen, dass das Streben der Nationalstaaten nach dezidierter Selbstständigkeit und der in ihr Außenverhältnis eingebaute Bedarf nach dauerhafter Konkurrenz mit anderen – ihr sacro egoismo – der Entstehung größerer, nationale Grenzen überwölbender Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge ernsthaft im Wege steht. In einer weltpolitischen Situation, in der die Macht vor allem zwischen wenigen Großmächten oder Machtblöcken verteilt wird, bedeutet dies eine gravierende Selbstschwächung der meisten Nationalstaaten.

Grenzen

Überdies leben wir in einer Welt, in der die größten Herausforderungen globaler Natur sind: die Kontrolle des längst transnational gewordenen Kapitalismus, das Menschheitsproblem der Umwelt- und Klimakrise sowie die Bewahrung oder Wiederherstellung des Friedens. Dass es für Nationalstaaten aufgrund ihrer selbstbezüglichen Struktur sehr schwierig ist, die Lösung solch transnationaler Probleme effektiv voranzutreiben, bezeichnet ihre gegenwärtig größte Schwäche und empfindlichste Grenze.

Es ist nicht leicht, von den Stärken und Leistungen des Nationalstaates zu profitieren, ohne mit seinen Schwächen und Gefahren konfrontiert zu sein. Stärken und Schwächen sind miteinander verwoben. Am ehesten gelingt es durch kluge Politik, die Nationalstaatliches und Übernationales verknüpft. Übernationale Einbettung minimiert den Egoismus und die Aggressivität, die dem Nationalstaat innewohnen. Umgekehrt schützt die Pflege nationalstaatlicher Wurzeln und Bindungen übernationale Bündnisse und Institutionen davor, sich von der Lebenswelt zu entfernen und rücksichtslos oder undemokratisch zu werden. Einer der ganz wenigen trotz vieler Enttäuschungen und innerer Krisen weiterhin hoffnungsvollen Versuche, dies zu verwirklichen, ist die Europäische Union. Nicht als Durchgangstufe zu einem europäischen Superstaat verdient sie alle Unterstützung, wohl aber als originelles Gebilde, das Nationalstaatlichkeit und Übernationalität immer neu und zukunftsoffen ausbalanciert.

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