Er war ein gefeierter, weltberühmter Schriftsteller, aber seine Biografie liest sich über lange Strecken wie eine Passionsgeschichte. Man erhob ihn zur moralischen Instanz und Vorzeigefigur, aber das hinderte seine Gegner nicht daran, ihn unbarmherzig zu verfolgen. Nach seinem Tod hat man Schulen und Straßen nach ihm benannt, doch war er zu Lebzeiten ein unbequemer Schriftsteller, der wie kein anderer dazu beitrug, den trügerischen Frieden der westdeutschen Republik zu stören. So glich sein Leben einem bösen und traurigen Märchen. In der Biografie von Jochen Schubert, soeben aus Anlass des 100. Geburtstags publiziert, wird es noch einmal nachgezeichnet.
Vieles an der Person Böll, so stimmig sie in sich selbst war, erscheint paradox. Er verabscheute das Geld und den Reichtum, der Erfolg aber heftete sich an seine Fersen und ließ ihn wohlhabend werden. Die Fanfarentöne nationalen Selbstbewusstseins waren ihm verhasst, doch verhalf er seinem Land, der Bundesrepublik, zu neuem Ansehen. Er war in den frühen Jahren die literarische Stimme der »Trümmergeneration«, aber niemand hätte damals an den Literaturnobelpreis zu denken gewagt. Die Preisverleihung in Stockholm im Dezember 1972 hatte symbolische Züge, die über das Literarische hinauswiesen. Heinrich Böll wurde nicht nur als Schriftsteller geehrt, sondern auch als Verkörperung eines »anderen Deutschlands«. Trotz der sechs Jahre, die er als Soldat in Uniform verbracht hatte, galt er als unbelastet durch den Nationalsozialismus, als antimilitaristisch und, trotz seines gläubigen Katholizismus, als kirchenkritisch. Sein Verhältnis zu Deutschland hatte etwas von einer kritischen Gebrochenheit, was ihn in die Lage versetzte, sich auch in den Niederlanden, in Polen oder Israel zum eigenen Land zu bekennen. Diese Haltung führte dazu, dass er in vielen Ländern von Hunderttausenden gelesen wurde. Der Gefahr, dadurch in die Rolle einer Galionsfigur gedrängt zu werden, war er sich bewusst und stets bemüht, sie zu relativieren.
Er war 54 Jahre alt, als er die höchste Auszeichnung erhielt, die die literarische Welt zu vergeben hat. »Der Weg hierhin«, sagte er in seiner Stockholmer Preisrede, »war ein weiter Weg für mich, der ich, wie viele Millionen anderer, aus dem Krieg heimkehrte und nicht viel mehr besaß als meine Hände in der Tasche, unterschieden von den anderen nur durch die Leidenschaft, schreiben und wieder schreiben zu wollen. Das Schreiben hat mich hierhergebracht.« Man muss also die Anfänge dieses Schriftstellers ins Auge fassen, der zwar früh begonnen hatte, von einer literarischen Laufbahn zu träumen, dafür nach Herkunft und Zeitumständen jedoch denkbar schlecht ausgerüstet war. Nichts ist ihm in den Schoß gefallen und den eigenen Weg musste er erst mühsam finden.
Die Lehren des Leidens
Wer 1917 geboren wurde, aus kleinbürgerlich-katholischem Milieu stammte und in sein bewusstes Leben just zu der Zeit eintrat, in der das Denken in Deutschland gleichgeschaltet wurde, konnte sich von all diesen Einflüssen und Eindrücken nicht völlig freihalten. Man kann es nachlesen in Bölls Briefen aus dem Krieg, gerichtet an seine spätere Frau Annemarie und 16 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Weitere 16 Jahre später sind nun unter dem Titel Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind Bölls »Kriegstagebücher 1943 bis 1945« erschienen, die diese Bezeichnung aber kaum zu Recht tragen, da sie nicht mehr als rudimentäre Einträge von geringer Ergiebigkeit enthalten. Auch die Verwendung von Faksimiles vermag ihnen nicht aufzuhelfen. Auszunehmen sind allenfalls einige Notizen vom Herbst 1943 aus dem Krieg auf der Krim, die etwas vom Elend der Frontexistenz verdeutlichen. Der Hauch von Widerstand gegen das Nazi-Regime, den der Titel suggeriert, findet keinerlei Bestätigung. Vielmehr taucht sogar ohne jede Ironie der Gedanke auf, »nach dem Krieg hier im Osten ein koloniales Dasein« zu führen. Böll selbst hatte diese Notizen in seinem Testament von der Veröffentlichung ausdrücklich ausgeschlossen, was Verlag und Nachlassverwalter, den 100. Geburtstag mit seinen verlockenden und womöglich letztmaligen Verwertungsmöglichkeiten vor Augen, ignoriert haben.
Von der biografischen Aussagekraft der Briefe aus dem Krieg ist man hier weit entfernt. In diesen begegnet man einem jungen und extrem provinziellen Menschen, der die Welt nicht kennt und an vielen ihrer Irrtümer teilhat. Jedoch sieht man zugleich Bölls literarische Sendung und seine menschliche Mission heranwachsen und begreift, warum der Krieg und die Nachkriegszeit für lange Zeit seine wichtigsten Themen waren und bis zuletzt nie an Bedeutung verloren. Er war 23 Jahre alt, als er im Februar 1941 an seine Verlobte Annemarie Čech schrieb, er habe eine »Aufgabe« zu erfüllen: »Ich glaube, ich habe den Auftrag, den Menschen eindringlich zu sagen, daß es nichts so Geheimnisvolles, nichts so Verehrungswürdiges gibt wie das Leid; nichts, das so unmittelbar uns geschenkt ist, regelrecht geschenkt, nicht auferlegt.« Die religiöse Grundierung dieser Haltung ist offensichtlich. Man fühlt sich an Fjodor Dostojewski erinnert, der schon damals zu Bölls literarischen Hausheiligen zählte. Er fährt in seinem Brief fort: »Es ist wirklich eine Gnade, wenn wir leiden dürfen, denn wir dürfen dann doch auf eine geheimnisvolle Weise wie Christus sein.«
Auch die frühen Erzählungen Bölls haben etwas vom Klima seiner Briefe aus dem Krieg. Sie zeigen die Misere des Einzelnen, seine materiellen und seelischen Notlagen und die Verwirrung der moralischen Kriterien. Der Autor tritt nicht als Urteilender oder als Richter auf, sondern als ein von der Situation Betroffener. In diesen frühen Geschichten – dazu gehören berühmte Stücke wie Der Zug war pünktlich und Wanderer, kommst du nach Spa … – offenbaren sich eine Leidensfähigkeit und Bereitschaft zur Anteilnahme, die zweifellos mit Bölls Katholizismus zusammenhängen. Er teilt sie mit seinen Figuren, überwiegend traurige Helden, die mit stillem Trotz in die Welt schauen, frei vom Ehrgeiz vorwärts zu kommen, aber auch ohne Bereitschaft, sich anzupassen. Der Grundton von Bölls Darstellung tendiert zur Klage und zuweilen zur Predigt. Man kann ihn ästhetisch anfechtbar finden; anspruchsvolle Leser haben sich darüber mokiert. Dennoch gehört er zur Substanz von Bölls Werk. Demut und Mitleid, die allerchristlichsten Tugenden, hielt er hoch, so wie er Hochmut und Herzenskälte verabscheute. Der Bibelspruch, eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt, war ihm aus dem Herzen gesprochen. Die Welt der Reichen war ihm so fremd, dass er, wie Hans Magnus Enzensberger spottete, »nicht einmal imstande war, sie darzustellen«. So wurde er über den Weg der Westdeutschen ins Wirtschaftswunder notgedrungen zum Satiriker.
Er schrieb eine Reihe meisterhafter Satiren, von denen zwei besonders berühmt geworden sind: die Weihnachtssatire Nicht nur zur Weihnachtszeit und die Erzählung Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. Eine Satire ist die Darstellung einer falschen, verkehrten Welt, deren Falschheit und Verkehrtheit durch Übertreibung oder Verzerrung zur Kenntlichkeit gebracht wird. Bölls satirische Texte richten sich nicht auf den Weltzustand im Allgemeinen, sondern auf einige genau umgrenzte Ausschnitte unserer Wirklichkeit. In der Erzählung über Doktor Murke ist es die Kulturindustrie, und zwar in ihrem perfektesten Modell, einem Funkhaus. Es ist ein Ort pausenloser Beschallung, und in Bölls Geschichte erkennt man dahinter ein umfassenderes Konzept: die Abschaffung der Stille. Das ganze Universum soll mit dem Dauerlärm unserer Geschäftigkeit erfüllt werden. Dieser Zustand ist heute weitgehend erreicht. Böll hat ihn ein halbes Jahrhundert zuvor vorweggenommen. Doktor Murke ist einer aus der langen Galerie von Verweigerern in seinem Werk. Inmitten eines geschwätzigen Kulturbetriebs sammelt er Augenblicke des Schweigens. Das ist seine Form des Widerstands, ein stummes »Nein«, das er der Welt entgegensetzt.
Der Antipode Adenauers
In den 14 Jahren zwischen 1949 und 1963, in denen sich Böll aus mühsamen Anfängen zum bekanntesten Schriftsteller der Bundesrepublik entwickelte, wurde das Land von Konrad Adenauer regiert. Beide waren Söhne der Stadt Köln, aber der Kanzler und der Schriftsteller sind sich persönlich nie begegnet. Dabei war Böll, wie Ralf Schnell in seinem Buch Heinrich Böll und die Deutschen darlegt, in gewissem Sinn die literarische Gegenfigur zu dem politischen Protagonisten der Epoche. Der große Verriss, den Böll 1965 Adenauers Erinnerungen widmete, ist durch seine polemische Schärfe einzigartig in seinem Werk. Er nutzte die Gelegenheit, seiner Abneigung freien Lauf zu lassen und im Autor Adenauer zugleich den Kanzler zu treffen: »Warum mußte ein so unpoetischer Politiker, der sich in einem Staat, in einer ganzen Epoche ausdrücken konnte, auch noch versuchen, sich in Sprache auszudrücken?« Als Kölner und Katholik war Adenauer für Böll ein ungeliebter Doppelgänger, der Tatmensch, also Widerpart des Schriftstellers und Wort-Menschen. Sein Urteil über Adenauers Memoiren fasste er in dem Satz zusammen: »Es ist viel Niedertracht in diesem Buch, und es bedurfte wohl des letzten Restes von Menschenverachtung, auch der allerletzten Verachtung unserer Sprache, es zu publizieren, nicht ahnend, wie viel Sprache verraten kann.« Verstand sich Böll als Antipode Adenauers, so war Willy Brandt dessen Antipode als Kanzler. Dem Verhältnis Bölls zum vierten Kanzler der Bundesrepublik und dessen Partei, der SPD, geht Norbert Bicher in seinem Buch Mut und Melancholie nach. Der Sozialdemokratie gegenüber wahrte Böll bis in die 70er Jahre hinein eine gewisse Distanz, wie sie seiner Herkunft aus dem katholisch-kleinbürgerlichen Milieu in Köln entsprach. Er nannte sie 1966 in einem Brief an Hans Werner Richter »die mieseste aller Parteien«. Willy Brandt dagegen hat er seit seiner ersten Kanzlerkandidatur 1961 geschätzt und geradezu verehrt. Unter anderem aufgrund seiner Jahre im Exil während der Zeit des Nationalsozialismus und ebenso aufgrund der gegen ihn gerichteten Diffamierungskampagnen. Er war für ihn der »erste deutsche Kanzler, der aus der Herrenvolktradition herausführt«. Willy Brandts Friedensnobelpreis von 1971 und Heinrich Bölls Literaturnobelpreis von 1972 wurden nicht ohne Grund oft in einem Atemzug genannt, wobei ihre Kritiker dahinter eine internationale Verschwörung witterten. Willy Brandt hat Heinrich Böll 1985 einen schönen Nachruf geschrieben; darin der großartige Satz: »Heinrich Böll war in allem von einer Freigebigkeit, die nicht selten die Grenzen dessen, was für vernünftig gilt, zu überschreiten drohte.«
Gefahr der Routine
Das öffentliche Bild Bölls war im letzten Jahrzehnt seines Lebens von seinem Wirken als politischer Zeitgenosse bestimmt, vor allem seit DER SPIEGEL 1972 – im selben Jahr, in dem er den Nobelpreis für Literatur erhielt – den Artikel »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« (unter einem falschen, von Böll nicht autorisierten Titel) veröffentlicht hatte. Er war ein Appell an die Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF), ihren »Kriegszustand« gegenüber der westdeutschen Gesellschaft zu beenden, enthielt aber zugleich scharfe Kritik am Umgang der Bild-Zeitung mit den Terroristen. Böll scheute sich nicht, die Worte »Verhetzung, Lüge, Dreck« zu verwenden und von »nacktem Faschismus« zu sprechen. Heftige Angriffe besonders in der Springer-Presse waren die Folge, worauf Böll wiederum mit der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum reagierte. Von nun an begann seine Rolle als Mahner und Gelegenheitsprediger das Bild des Künstlers und Schriftstellers in der breiten Öffentlichkeit immer stärker zu verdecken. Für seine Bewunderer wurde er zur Galionsfigur, was zweifellos eine Überforderung war, gleichzeitig verstärkte sich jedoch auch die Unterschätzung des Künstlers. Böll wollte keine Galionsfigur sein, genauso wenig wie ein Dichterfürst à la Gerhart Hauptmann oder Stefan George. Nicht aus Bescheidenheit, die Rolle lag ihm einfach nicht. Ihm zum Ruhme muss man sagen, dass er die Literatur nie in den Dienst seiner Gesinnungen gestellt hat, ja er hat sie gegen die Ansprüche des Politischen verteidigt. Von André Gide stammt der Satz: »Mit guten Gefühlen macht man schlechte Literatur«. Auch Heinrich Böll hat die »Gesinnungsliteratur« abgelehnt: »Es gibt eine innere Wahrhaftigkeit der Form, die viel wichtiger ist als die innere Wahrhaftigkeit des Inhalts …«
Dabei war sich Böll seiner künstlerischen Mittel nicht immer sicher. Er konnte zum Beispiel nicht erklären, wie glänzend Gelungenes gleichzeitig zu fatal Misslungenem entstehen konnte. Ein 1956 entstandener, aufschlussreicher Text heißt Das Risiko des Schreibens. Er spielt sieben Jahre früher, also noch in der Trümmerzeit, und ist von unverkennbar autobiografischem Charakter. Ein junger Autor, der Bölls Züge trägt, gibt darin einem Redakteur zwei kurze Erzählungen zu lesen. Der Redakteur, dessen kritische Fähigkeiten nicht angezweifelt werden, kann nicht glauben, dass beide Geschichten vom selben Autor geschrieben worden sind: »Die erste«, erläutert er, »das ist eine anspruchsvolle und deshalb besonders verwerfliche Art von religiösem Kitsch, und die zweite – – ich habe nicht den geringsten Grund, Ihnen zu schmeicheln, die zweite finde ich großartig. Erklären Sie mir das!« Der Autor bleibt die Erklärung schuldig und die Antwort, die er improvisiert, wirkt eher hilflos als großspurig: »Ich habe keine andere Wahl.« Kein Zweifel, dass wir es hier mit einer Erfahrung des jungen Heinrich Böll zu tun haben, der gerade mit dem Erzählungsband Der Zug war pünktlich debütiert hatte. Bemerkenswert ist nur, dass die Ratlosigkeit des »Ich habe keine andere Wahl« auch später nicht wich, als Böll längst ein berühmter Autor war. »Keine andere Wahl zu haben«, fährt er fort, »das ist ein großes Wort, aber ich habe auf die Frage, warum ich schreibe, bisher keine bessere Antwort gefunden: Kunst ist eine der wenigen Möglichkeiten, Leben zu haben und Leben zu halten, für den, der sie macht, und für den, der sie empfängt.« Es folgt in dieser Geschichte über das Risiko des Schreibens dann noch ein Satz, den man als Selbstauskunft des Schriftstellers Böll verstehen kann: »Man hört nicht dadurch, dass man etwas Schlechtes macht, auf, ein Künstler zu sein, sondern in dem Augenblick, in dem man anfängt, alle Risiken zu scheuen.« Böll hat die Gefahr der Routine stets gemieden, bis hin zu dem riskanten Unternehmen seines letzten, kurz vor seinem Tod veröffentlichten, Romans Frauen vor Flußlandschaft, in dem er ein weites und kühnes Panorama der Bonner Republik entwirft, getaucht in eine Atmosphäre von Resignation und Hoffnungslosigkeit.
In einer Rezension des Buches, die nach Bölls Tod erschien, schrieb Marcel Reich-Ranicki: »Von allen Büchern Heinrich Bölls scheint mir dies das traurigste, das bitterste. Es ist eine Elegie mit bizarren Zügen, ein Requiem mit satirischen Akzenten. Aus diesen Monologen und Dialogen sprechen die schmerzhaften Enttäuschungen eines Deutschen und eines Christen, der es sich immer schwergemacht hat. Wer weiß, ob sich der Lebensweg dieses erfolgreichen Schriftstellers nicht insgeheim einer Passionsgeschichte näherte.« Dann folgte ein Satz, der die knappste Formel für Heinrich Bölls Person und sein erstaunliches Wirken darstellt: »Wir werden niemals seinesgleichen sehen.«
Neue Literatur zum Thema: Heinrich Böll: Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 352 S., 22 €. – Norbert Bicher: Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2017, 248 S., 22 €. – Ralf Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 240 S., 19 €. – Jochen Schubert: Heinrich Böll. Konrad Theiss, Darmstadt 2017, 340 S., 29,95 €.
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