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Sonia Combes Intellektuellengeschichte der DDR Loyale Dissidenz

»Which Side are You On?« – die Frage aus dem alten Gewerkschaftslied ist neuerlich aktuell in einer Zeit, die nach klaren, eindeutigen Bekenntnissen verlangt. Es lohnt vor diesem Hintergrund, das Buch Loyal um jeden Preis der französischen Zeithistorikerin Sonia Combe zu lesen, das nun auf Deutsch vorliegt. Der Untertitel »›Linientreue Dissidenten‹ im Sozialismus«, den Memorien von Jürgen Kuczynski, dem berühmten Wirtschaftshistoriker der DDR, entlehnt, verdeutlicht den Fokus von Combes Intellektuellengeschichte, indem er widersprüchliche Begriffe sprachlich zusammenfasst. Es geht um die Überzeugungen der kulturellen Elite der DDR, um das Verhältnis von Haltung, Loyalität und Integrität, um die Bereitschaft zu Konformismus oder Dissidenz – und die Wirkung auf die nachfolgende Generation.

Combe hat bereits in den 80er Jahren zahlreiche Interviews mit antifaschistischen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern der DDR geführt, unter ihnen viele Juden, hat ihre Biografien gelesen und, nach der Wiedervereinigung, auch ihre Stasi-Akten studiert. Warum gingen sie, die die Zeit des Nationalsozialismus meist im Exil verbracht hatten, überhaupt nach Deutschland zurück, warum wählten sie die SBZ beziehungsweise die DDR als neues Lebensland und welche Hoffnungen verbanden sie damit?

Zu ihnen gehörten Schriftsteller wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Stefan Heym und Stephan Hermlin, Bertolt Brecht und seine Frau, die Schauspielerin Helene Weigel, die Literaturwissenschaftler Hans Mayer und Alfred Kantorowicz, der Politökonom und Historiker Jürgen Kuczynski und der spätere Cheflektor des Aufbau-Verlags Max Schroeder. Sie verband der Kampf gegen den Nationalsozialismus, die lebensbedrohliche politische oder ethnische Verfolgung, nicht zuletzt die Erfahrung des Exils. Sie verband auch zumeist ihre bürgerliche Herkunft, der Wunsch, die eigene Sprach-Heimat zurückzugewinnen, nicht zuletzt der Wunsch, ein besseres Deutschland mit aufzubauen.

Wären Sie in Westdeutschland überhaupt willkommen gewesen? In der DDR erwartete sie materielle Sicherheit, die Zugehörigkeit zur kulturellen Elite und damit verbundene Privilegien. Sie wurden zu kulturellen und intellektuellen Gründungspersönlichkeiten ihres Staates. Auch wenn den Remigranten, die aus dem Westen kamen, Misstrauen entgegenschlug, wenn es Konflikte gab zwischen ihnen und jenen, die aus Moskau zurückgekehrt waren – sie stützten gemeinsam ein System, das sie in ihren Werken durchaus kritisch befragten, aber nicht grundsätzlich infrage stellten. Offene Kritik trugen sie innerhalb der Partei vor, in der Öffentlichkeit schwiegen sie.

Combe vergleicht Westdeutschland und die DDR – und urteilt durchweg zugunsten letzterer: Dort sei die Entnazifizierung schnell und konsequent erfolgt, in der BRD hingegen schleppend und bloß oberflächlich. »Weil in der DDR die Entnazifizierung schnell vor sich gehen sollte, konnte sie nicht vollständig sein.« Der Satz verstört, weil zeitlicher Druck als Grund für die unzulängliche Entnazifizierung in der DDR genannt und zugleich impliziert wird, es sei überhaupt möglich, eine diskreditierte Elite nahezu vollständig auszutauschen.

»Selbst Arnold Zweig, ein Linker, der aber niemals Kommunist und noch weniger ein Stalinist war, zeigte sich beunruhigt über das langsame Tempo des Entnazifizierungsprozesses im Westen, was ihn auch zu der Entscheidung veranlasste, sich in Ostdeutschland anzusiedeln.« Selbst jene kommunistischen Exilanten, die Repressionen in der UdSSR erlebt hatten, entschieden sich für die DDR – die Bundesrepublik, in der belastete Personen wie Hans Globke, Arnold Gehlen und Klaus Barbie Unterschlupf gefunden hatten oder sogar politische Schaltstellen besetzten, war für sie keine Option.

Combe rekonstruiert das Verhältnis exponierter Remigranten zu ihrem Staat: »Sie berichteten mir von erlebter Entzauberung, aber auch davon, wie sie trotz allem ihre Überzeugungen bewahrten.« Anna Seghers etwa, Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR und eine zentrale Person des ostdeutschen Literaturbetriebs, blieb heiklen Sitzungen oft krankheitshalber fern: »Seghers verstand die Kunst des Ausweichens.« War sie zugegen, zeigte sie ihre Unterstützung kritischer Positionen durch freundliche Gesten gegenüber den Kritikern.

Sich mit der Realität in der DDR weitgehend abfinden, durch Ehrungen geschmeichelt sein und zugleich wissen, von der Stasi observiert zu werden. Konformismus hat viele Spielarten. Combe hält die Opposition innerhalb der SED für stark unterbewertet. Zahlreiche Intellektuelle praktizierten eine »Ethik des Schweigens«, einen Mix aus Vorsicht, passiver Loyalität und aktivem Opportunismus.

Der Grat zwischen Loyalität und Kritik war schmal. So konnte Jürgen Kuczynski Ende der 50er Jahre den Parteiausschluss abwenden, der womöglich seine berufliche Existenz vernichtet hätte. Wenngleich er den Sitz in der Volkskammer und die Mitgliedschaft in der Historikerkommission DDR-UdSSR verlor, blieb die Partei für ihn stets die politische Instanz. Nur in der Partei und durch sie waren für ihn politische Veränderungen zu erreichen. Dass er sich selbst als linientreuen Dissidenten bezeichnete, zeugt von einer gewissen Koketterie.

Combe schildert auch die negativen Aspekte der »Ethik des Schweigens«: Gegnerschaft oder Kritik nur »zwischen den Zeilen« zu äußern, wirkte dämpfend auf gesellschaftliche Konflikte. Auch deshalb habe es in der DDR keine organisierte Opposition wie in Ungarn oder Polen gegeben. Die »Ethik des Schweigens« verlangt permanentes Taktieren.

Die praktizierte »loyale Subversion« – ein anderer von Combe verwendeter Begriff – prägte auch die Intellektuellen und Schriftsteller der nachfolgenden Generation, darunter Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun. Zugleich war der Preis für diese uneindeutige Haltung beträchtlich. Sie trug zwar zur relativen innenpolitischen Stabilität des SED-Staates bei, verführte jedoch auch zu Fehleinschätzungen wie der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989, wenige Tage vor dem Fall der Mauer, als wäre die Wiedervereinigung noch aufzuhalten gewesen. Die Bevölkerung entschied anders.

»Hatte die Loyalität der ostdeutschen Marxisten ihre Niederlage zum Preis?« Sonia Combes Frage wirkt ein wenig hölzern wie die gesamte Argumentation ihres Buches – es fehlt die Klärung zentraler moralischer und politischer Begriffe. Wann wird Desillusionierung zu Mutlosigkeit, wann zum Verrat der eigenen Ideale, ja, an der eigenen Intellektualität? Wenn Intellektuelle schweigen und auf kritische Äußerungen verzichten, schwächen und zerstören sie das einzige Medium, dem sie ihre Wirkungsmöglichkeit verdanken: die Öffentlichkeit.

Und sie stärken diejenigen, die Öffentlichkeit als potenzielle Bedrohung ihres Herrschaftsarkanums ansehen. Konnte ihre Wirkung tatsächlich nur in der Grauzone des distanzierten Mitmachens oder beredten Schweigens bestehen? Der Dramatiker Heiner Müller, formal wegen ausstehender Mitgliedsbeiträge aus der SED ausgeschlossen, schrieb das Gedicht »Selbstkritik« über die entzauberte Illusion, vermeintlich immer auf der richtigen Seite zu stehen:

»Meine Herausgeber wühlen in alten Texten / Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das / Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT / Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod / Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute / Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit / Die vor vierzig Jahren mein Besitz war / Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend.«

Sonia Combe: Loyal um jeden Preis. »Linientreue Dissidenten« im Sozialismus (Aus dem Französischen von Dorothee Röseberg). Ch. Links, Berlin 2022, 272 S., 25 €.

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