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picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Strategiefragen, die Progressive nicht wegschieben dürfen Nichts ist entschieden

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So eine Lage hat es noch nie gegeben. Das Land hat nun eine der kleinsten Koalitionen, die je regiert haben – aber eine, die sich selbst als Bündnis einer starken Mitte definiert. Es gewinnen die Rechtspopulisten weiter an Rückhalt, während die Zustimmung zu den progressiven Parteien zusammengenommen so schwach ist wie seit Jahrzehnten nicht. Nach einem halben Jahr, geprägt durch Ampel-Bruch, turbulenten Kurzwahlkampf, Sondierungen, Koalitionsverhandlungen und dann handverlesener Rekrutierung des neuen Kabinetts durch die Parteivorsitzenden sind die gesellschaftlichen Erwartungen so gering, wie die Koalition klein ist.

Das ändert aber nichts daran, dass sie geopolitisch und durch den nationalen Extremismus gefordert ist, wie kaum eine andere Regierung zuvor. Sie muss, wenn es gut laufen soll mit der Stabilisierung der Mitte, neue Antworten formulieren und neue Durchsetzungsstärke zeigen. Im Koalitionsvertrag ist davon an konkreter Substanz noch wenig erkennbar. 15 Kommissionen, zwei neue Gremien, 13 Gesetzesevaluationen und 88 Prüfaufträge: Nach dem stark symbolischen Aktivismus der ersten Regierungstage, vor allem mittels verstärktem Einsatz von Grenzpolizei, fallen am Berliner Politikhimmel vor allem die vielen Fragezeichen auf. Die konkrete Politik, falls sie denn zustande kommt, scheint vielfach – noch – offen.

Verloren hätte diese Koalition, würde sie sich wegen der Abwehrstrategie gegen rechten Populismus und Extremismus schnell zerstreiten. Das AfD-Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und die Nicht-Reaktion vieler in der Union darauf hat die Falle deutlich werden lassen. Die neu-rechte Herausforderung wird die Koalition wie ein Schatten begleiten. Ein angemessener Umgang, um die Zustimmung zur verbreiteten Niedergangsrhetorik abzubauen, wird sich aber auch nicht alleine über ruhiges Regieren herstellen lassen. Es braucht eine Politik, bei der sich Regierung, Parteien und demokratische Bürgergesellschaft wechselseitig positiv inspirieren und dabei die innere Liberalität der Gesellschaft neu fördern und schützen.

Wie wird die Gesellschaft einbezogen?

Eine große Gefahr ist, zu glauben, nur mit einer Politik des Staatsapparates wirkungsvoll antworten zu können. Mehr noch: Es wäre politische Selbstüberschätzung, wenn die schrumpfenden Volksparteien glaubten, sie selbst könnten ohne neue Teilhabe- und Integrationsangebote die gesellschaftliche Stimmung wieder drehen. Wie in der digitalen Zukunft eine offene, konstruktiv-zugewandte Demokratie möglich bleiben kann, ist zur zentralen Herausforderung geworden. Und es ist bei allem dringenden Regelungsbedarf hinsichtlich der Welt der neuen digitalen Oligarchen keine Frage, die sich in den politischen Gremien alleine lösen lässt.

»Jetzt braucht es die politische Wachsamkeit der Vielen – und neue Formen von Einmischung.«

Es ist eine Frage auch an die Erwartungen aus der Gesellschaft selbst. Erwartungen speziell aus dem politischen Spektrum, das immer für Offenheit stand: dem progressiven Spektrum. Niemand sollte sich darauf verlassen, dass die neue Regierung den Meinungstrend schon irgendwie umdrehen wird. Die jetzt wieder führende Regierungspartei ist in ihrer Abgrenzung nach rechts eher unschärfer geworden. Was es jetzt braucht, ist die politische Wachsamkeit der Vielen – und neue Formen von Einmischung, die über organisierte, auf Kleinthemen begrenzte Bürger:innenbeteiligung hinausreicht. Die Progressiven im Land dürfen sich nicht ausgebremst fühlen, sie werden gerade jetzt gebraucht.

Nötig sind dann aber auch hier Klärungsprozesse hinsichtlich eigener offener Fragen: Was genau bedeutet progressiv in Zeiten von Fortschrittsskepsis? Welchen Anteil hatte progressiv verstandene Politik selbst am negativen Stimmungswechsel im Land? Um welche Ziele muss es künftig gehen? Welche Inhalte und Präferenzen ergeben sich daraus? Welche Wege sind denkbar, welche realistisch? Wie kann die Kraft der Gesellschaft insgesamt wieder mobilisiert werden, über die Institutionen hinaus? Diese Debatten müssen nun beginnen.

Die drei Parteien SPD, Grüne und Die Linke sind bei der zurückliegenden Bundestagswahl zusammen nur auf 35 Prozent der Stimmen gekommen. Die neue weltweite Stärke der Rechten und die neue – auch kulturelle – Defensive der Progressiven bedingen einander. Den rechten Bewegungen, die bis weit in Parteien der Mitte eingedrungen sind und dort einen Rechtsruck bewirkt haben, ist es sogar gelungen, sich als Emanzipationsbewegung gegen staatliche Präferenzen in der Migrations-, Transformations- und Kulturpolitik zu inszenieren. In diesem Sinne begreift sich die extreme Rechte als Nachfolgerin linker Bewegung gegen den Status quo und identifiziert sich selbst als wahre Kraft gegen das Establishment. Sie nutzt uneingelöste Versprechen der liberalen, demokratischen Moderne – primär das Freiheits- und Gleichheitsversprechen. Sie nutzt auch die Outputschwäche des politischen und ökonomischen Systems, die gegenseitigen Blockaden durch allerlei – auch gut begründete – Regulierungen und Balancen. 

Doppelte Herausforderung der Progressiven

Aber es gibt auch eine Repräsentationsschwäche der Progressiven selbst. Einerseits ergreifen sie –- sozialstrukturell eher von außen –- Partei für die unteren Schichten und unteren Mittelschichten und deren Beteiligungsansprüche; andererseits scheinen auch sie für diese Gruppen keine direkte Beteiligungsperspektive zu haben. Zweitens sind die progressiven Parteien mit einer doppelten Herausforderung überfordert: einerseits mit ihrem Wettbewerb innerhalb des Mitte-Spektrums selbst, andererseits mit einem möglichst gemeinsamen Vorgehen gegenüber den Rechtsaußenkräften, was wiederum eine stabile demokratische Mitte voraussetzt.

»Es gibt seit Langem eine Umsetzungsschwäche im Zentrum progressiver Politikkonzepte.«

Zudem dominieren zu häufig auch bei den Progressiven technokratische Kommunikations- und Verhaltensmuster. Und es gibt seit Langem eine Umsetzungsschwäche im Zentrum progressiver Politikkonzepte: da, wo es um realpolitische, verteilungsrelevante Eingriffe in entsolidarisierende Marktmechanismen geht. Innerhalb komplexer politischer Entscheidungsstrukturen – in föderalen Systemen zumal – hat sich klare Interessenspolitik von unten zumeist als nicht ausreichend durchsetzbar erwiesen. Die Zweifel an der Veränderungsfähigkeit des Systems sind inzwischen verbreitet und öffnen rechten Ideologen den Zugang zu den Enttäuschten.

Wesentliche Ursache für die schwache Anschlussfähigkeit ist auch das eigene Rationalitäts- und Staatsverständnis. Es beginnt beim Drum-herum-Reden: Statt klar zu sagen, was ist, dominiert zu oft ein technokratischer Kommunikationsmodus, der Herausforderungen eher vernebelt als erhellt. Auch Progressive haben zu oft ein zu skeptisches Verhältnis zur Rolle, die die Bevölkerung, die Gesellschaft bei der Entwicklung neuer Antworten spielen kann. Im Zentrum stehen zu ausschließlich der Staat und seine Ressourcen.

Verteilte Rollen, gemeinsame Diskurse?

Notwendig sind aber neue, offene Konzepte zur Zukunft der Erwerbsgesellschaft, der Migrationsgesellschaft, der Sicherheitsanforderungen nach innen und außen, der Umsetzung der ökologischen Transformation. Die Merz-Koalition wird sich daran abarbeiten, doch sie wird schnell auf bekannte Kontroversen stoßen. Denn es sind in all diesen Zusammenhängen national und international eklatante Gerechtigkeitsfragen zu bewältigen. Es ist dabei ein gravierender Unterschied, ob man nur die zentralen Konfliktlinien zwischen arm und reich sieht oder auch die zwischen Transferempfänger:innen und Erwerbstätigen. Also zwischen denen, die fast nichts haben und denen, die wenig haben. Traditionell wird letztere Konfliktlinie mit Erfolg von rechts bespielt. Für die Alltagstauglichkeit progressiver Politik braucht es darauf eine eigene Antwort, die nicht nur von der Notwendigkeit einer idealen Gesellschaft her denkt, sondern die alltägliche Paradoxien, Widersprüche und emotionale Anschlussprobleme versteht und an ihnen anknüpfen kann, ohne sich die rechten Ressentiments zu eigen zu machen.

Die parlamentarischen Rollen zwischen den progressiven Parteien sind auf Bundesebene nun unterschiedlich verteilt; die dadurch entstehende Gefahr einer wachsenden emotionalen Distanz ist ein Teil der neuen Realität. Gleichwohl darf es im Strategiediskurs gerade nicht vornehmlich um parlamentarische Rollenspiele und ihre Auswirkungen gehen. Grundlage muss sein, wie künftig wieder über die großen Themen in der Gesellschaft gesprochen werden kann. Schließlich muss dieser Diskurs auch dazu beitragen, eine arbeitsteilige Vorgehensweise zu ermöglichen, um progressive Politik weiter im Spiel zu halten.

»Von der Union hängt ab, ob die Idee der wehrhaften Demokratie weiter Bestand hat.«

Die Konservativen stecken in einem strategischen Dilemma zwischen Stärkung der politischen Mitte und neuer Attraktivität rechtsextremer, gesellschaftlich ausgrenzender Inhalte. Die Unionsparteien sind dabei der entscheidende Faktor im Hinblick auf die weitere Rolle, die die AfD im politischen System spielen kann. Von ihnen hängt ab, ob die Idee der wehrhaften Demokratie weiter Bestand hat – oder ob die Union den Konsens der Demokraten als Gefangenschaft empfindet, aus der sie versucht, sich zu befreien, um eine rechte Politik in direkter Abgrenzung von progressiven Inhalten durchzusetzen. Es wäre das schnelle Ende der Koalition der Mitte.  Damit sind die offenen Strategiefragen der Union aber jetzt in neuartiger Weise ständig direkt relevant für die Strategien im progressiven Lager. Und es reicht ausdrücklich nicht, sich diesbezüglich alleine über Anti-Rechts-Abgrenzung zu definieren. Es ergibt sich die Anforderung, sensibel zu sein für die Veränderungen in der Union und speziell die Kräfte dort, die sich autoritären Verlockungen widersetzen.

Die strategische Herausforderung

Es ist nun weltweit eine Übergangszeit, in der liberale Demokratien scheitern, aber sich auch wieder stabilisieren können. Es gibt große außenpolitische Erwartungen an die künftige Rolle Deutschlands ebenso wie dringenden Reformbedarf der internen Strukturen (Handlungsfähigkeit des Staates, Bestandskraft der Sozialsysteme angesichts Demografie und Zuwanderung). Der Diskurs darüber blieb zuletzt seltsam blutleer, auf Schlagworte reduziert. Das muss sich ändern, spätestens sobald die Regierungspolitik konkret wird. Dann aber muss es in der Gesellschaft Kräfte geben, die diese Regierung konstruktiv fordern. Nicht einmal der soziale und liberale Status quo ließe sich erfolgreich verteidigen, wenn dabei nicht ein konkretes Zukunftsbild deutlich wird, das gesellschaftlich getragen werden kann.

Das progressive Lager, obwohl machtpolitisch in der Minderheit, darf sich dabei nicht selbst kleinreden. Am Koalitionsvertrag muss der Impuls nicht scheitern; der ist nämlich in vielen Fragen sehr offen. Dabei ist aber auch klar: Es geht eben nicht nur um programmatische Antworten auf die sich vertiefende soziale Spaltung, sondern um konkrete Ideen, um positive Schritte im gesellschaftlichen Zusammenleben. Dabei ist das Politikmodell der Beteiligung ein Prinzip: kein Beiwerk, sondern zentrale Voraussetzung im unausweichlichen Transformationsprozess der entwickelten Gesellschaften.

(Dieser Text basiert auch auf den Impulsen einer Strategiekonferenz »Links mit Zukunft?«, die im April gemeinsam von der Zeitschrift NG/FH und dem Progressiven Zentrum veranstaltet wurde.)

Kommentare (1)

  • Räbiger
    Räbiger
    31.05.2025 - 10:24 Uhr
    Ein wissenschaftler Beitrag mit Andeutungen, ohne Klartext. Mitwirkung und Mitbestimmung verlangt Mitbürger mit Rückgrat. Diese werden dann durch die Parteien und Gremienvertreter ausgebremst, weggemobt. Ein Rufer in der Wüste "aktiv altern in NRW und überall". Gesetze der Mitwirkung werden bewusst missachtet. Konzerne werden durch das HGB geschützt.

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