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picture alliance / Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa | Sebastian Willnow

Die Sozialdemokratie kann wieder zur progressiven Kraft der Erneuerung werden Zur Reform verdammt

Die Suche der SPD nach sich selbst ist ein Dauerthema, das nach jeder Wahlniederlage neu aufgerufen wird. In diesem Kontext war der »seltsame Sieg« (Dietmar Süss) von 2021 eine Ausnahme, der an den grundlegenden strukturellen Problemen der SPD allerdings nichts änderte, sondern sie eher für einen Augenblick zukleisterte. Säkularer Strukturwandel bedeutet mit Blick auf die SPD die Transformation von einer milieubasierten Klassen- hin zu einer unspezifischen, immer kleiner werdenden Volkspartei. Das war und ist kein abstrakter Prozess. Vielmehr verbirgt sich dahinter die Entkoppelung von den lebensweltlichen Milieus der »kleinen Leute« und der Arbeiterschaft hin zu einer staatszentrierten Partei akademischer Provenienz, mit zu geringen emotionalen gesellschaftlichen Anschlussfähigkeiten.

Die Transformation der SPD ist Teil der strukturellen Veränderungen der deutschen Gesellschaft. Zugleich haben die Metamorphosen der SPD die authentische Repräsentanz der Unter- und unteren Mittelschichten hin zu einer advokatorischen, moralischen Parteinahme verschoben. Die SPD ist zwar weiterhin programmatisch und kognitiv am Schicksal der »arbeitenden Klassen« interessiert, hat aber immer weniger authentische Repräsentationskraft, um diese Parteinahme personell und lebensweltlich abzubilden. Die strukturelle Repräsentationslücke lässt sich nicht so schnell schließen. Gegenwärtig wird die SPD als profillos (52 Prozent wählten sie wegen ihres Programms; AfD 66, Grüne und FDP rund 70 Prozent) und emotionslos wahrgenommen. Sie sagt zu selten, was wirklich los ist. Zudem verfügt sie über zu wenige Köpfe, die Bodenständigkeit und gesellschaftliche Verankerung ausstrahlen.

»Die SPD ist die mit am besten lokal geerdete Partei in der deutschen Parteienlandschaft.«

Und dennoch: Es gibt Ansatzpunkte. Die SPD ist weiterhin die mit am besten lokal geerdete Partei in der deutschen Parteienlandschaft. Keine andere Partei – mit Ausnahme der CDU/CSU – ist so breit aufgestellt, hat so viele Bürgermeisterinnen, Landrätinnen und Mandatsträgerinnen über alle Ebenen hinweg. Sie ist stets regierungsfähig und hat nach wie vor ein hohes Wählerpotenzial, das mitunter zwei bis drei Mal so hoch ist wie die jüngsten Wahlergebnisse. Zudem ist sie reformwillig: Die SPD ist bereit, sich den eigenen Defiziten zu stellen, wie der Beschluss des Parteivor­stands vom 3. März 2025 zur Runderneuerung der eigenen Strukturen einmal mehr unterstreicht. Dabei soll die empirische Bezugnahme auf die Befindlichkeiten und Einschätzungen der eigenen Basis in den Ortsvereinen und Landesverbänden eine Rolle spielen, auch Intellektuelle und Aktivsten im Umfeld der Partei will die Spitze zurate ziehen. Solche Vorhaben gab es in ähnlicher Form schon häufiger. Man denke nur an den kritischen und aufschlussreichen Bericht nach der misslungenen Kandidatur von Martin Schulz im Jahr 2018. Das Projekt ist notwendig, darf aber kein Narkotikum werden, nur um Kritik abzupuffern.

Der einzige Weg einer »Problemlösungskoalition«

Soweit die strukturelle Dimension. Doch wie kann und soll auf die konjunkturelle Herausforderung reagiert werden, die mit der Wahl einhergeht? Die historische Wahlniederlage vom 23. Februar 2025 stellt die SPD aber auch kurzfristig vor eine gewaltige Herausforderung: Sie muss die neue Rolle als Juniorpartner mit der Union annehmen. Der Eintritt in die Große Koalition kann dabei auch eine Chance sein, um wieder mehrheitsfähig zu werden. Schon 2021 ist es gelungen, aus ihr heraus stärkste Kraft zu werden. Warum nicht auch diesmal? Friedrich Merz war ein unbeliebter Kanzlerkandidat. Als Mann der 90er Jahre dürften seine Zustimmungswerte niedrig bleiben. Hinzu kommt: Merz wird in diesem Jahr 70. Womöglich wird er schon 2029 nicht mehr antreten. Selbst wenn er das tut, haben die Wahlen gezeigt, dass aus dem Amtsbonus ein Amtsmalus werden kann.

Geformt werden muss eine »Problemlösungskoalition«, die den Populisten von rechts wie links den Nährboden entzieht, indem sie die Unsicherheitsthemen konstruktiv bearbeitet. In dieser Konstellation kann die SPD die progressive Kraft der Erneuerung sein und zugleich ein Stabilitätsanker, indem sie wichtige soziale, ökologische und demokratische Errungenschaften verteidigt. Und parallel kann sie durch eine realistischere Migrations- und Sozialpolitik wieder anschlussfähiger an die Lebenssituationen und Denkmuster der Unter- und unteren Mittelschichten werden. Aus dieser Perspektive ist die neue Koalition der Anlass für Positions- und Haltungsverschiebungen mit Blick auf zentrale Themen, bei denen die SPD die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich hatte oder ihr aufgrund der langen Regierungsbeteiligung kein Gestaltungsanspruch mehr abgenommen wurde.

»Dass die Kompetenzwerte der SPD bei der sozialen Sicherheit seit 2021 um 14 Prozentpunkte eingebrochen sind, ist ein Alarmzeichen.«

So war die Einführung des Bürgergeldes als »größte Sozialreform seit 20 Jahren« zwar fachlich gut begründet, schuf neue Lebenschancen und modernisierte die Jobcenter. Zugleich jedoch entkoppelte die Kommunikation der Reform die SPD einmal mehr von einem Teil der Unter- und Mittelschichten. Denn in der Öffentlichkeit entstand der fatale Eindruck, eingeführt worden sei eine Art sanktionsfreies »bedingungsloses Grundeinkommen« für alle. Es war kein Zufall, dass in den Nachwahlbefragungen nach der Bundestagswahl 54 Prozent der ehemaligen SPD-Wählenden angaben, die SPD »kümmert sich mehr um Bürgergeldempfänger als um Leute, die hart arbeiten und wenig Geld verdienen«. Und 46 Prozent von ihnen stimmten der Aussage zu, »die SPD vernachlässigt die Interessen der Arbeitnehmer«. Dass die Kompetenzwerte bei der sozialen Sicherheit seit 2021 um 14 Prozentpunkte auf 26 Prozent eingebrochen sind, wobei 38 Prozent der SPD-Wähler angeben, dieses Thema sei wahlentscheidend, ist ein Alarmzeichen.

Offensichtlich gilt die SPD vielen Bürgerinnen und Bürgern trotz der Mindestlohnkampagne nicht mehr als Partei des sozialen Aufstiegs und der Arbeitnehmermitte, sondern als leistungsavers und alimentationsorientiert. Die SPD darf das nicht auf sich sitzen lassen. Sie muss proaktiv reagieren und selbst Vorschläge machen, wie das Bürgergeld reformiert werden kann, anstatt zur Getriebenen der Union zu werden.

Parallel muss sie Schwerpunkte auf weitere Facetten sozialer Sicherheit legen, um nicht von den beiden linken Oppositionsparteien zerrieben zu werden: bezahlbares Wohnen, gleichwertige Lebensverhältnisse überall, moderne Familienpolitik, Aufstiegschancen durch gute Bildung, eine sozial gerechte Klimapolitik. Diese Themen sind im Wahlkampf vielfach Leerstellen geblieben. Die SPD muss mehr sein als das soziale Gewissen der Regierung. Sie muss den modernen, handlungsfähigen Sozialstaat verkörpern. Dann kann sie den Zusammenhalt repräsentieren, den sich in polarisierten Zeiten sehr viele Menschen wünschen, aber der Union nicht zutrauen. Ebenso zentral sind die Themen Migration und Investitionen in die Infrastruktur. Denn diese beiden Fragen sind eng miteinander verflochten und für die Befriedung und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unabdingbar. Institutionelle Anpassungen in der Migrationspolitik und eine Reform der Schuldenbremse sind zwei Seiten einer Medaille und der Lackmustest für die Funktionsfähigkeit der Koalition.

»Die Rollenverteilung, dass die SPD Schulden machen will und die Union ihr in den Arm fallen muss, wäre kontraproduktiv.«

Die SPD hat im Wahlkampf behauptet, die wichtigsten Maßnahmen zur Begrenzung der irregulären Einwanderung seien bereits verabschiedet worden oder auf dem Weg. Auf zusätzliche Forderungen in diesem emotional aufgeladenen Politikfeld hat sie verzichtet, um einen Überbietungswettbewerb zu vermeiden. Die Große Koalition bietet die Möglichkeit, dass die SPD in Zukunft wieder für Weltoffenheit, eine durchfinanzierte Integrationspolitik, gute Infrastrukturen und mehr Steuerung steht. Bei der Diskussion um Investitionen muss die SPD berücksichtigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Schuldenbremse befürwortet. Die klassische Rollenverteilung, wonach die SPD Schulden machen will und die Union ihr in den Arm fallen muss, wäre kontraproduktiv. Hier muss die SPD umsichtig vorgehen und Reformen gut begründen.

Öffnung zur progressiven Gesamtlinken

Klar ist: Diese Positionsverschiebungen in der Großen Koalition allein werden nicht ausreichen. Parallel müssen schmerzhafte Grundsatzfragen auf den Tisch kommen: Warum schöpft die SPD ihr großes Wählerpotenzial von 30–40 Prozent nur zur Hälfte aus? Welche Erklärungen gibt es dafür, dass die Kompetenzwerte der Partei eingebrochen sind? Was bringt die Kernklientel der Arbeiter und Gewerkschafter dazu, das Kreuz nicht mehr bei der SPD zu machen, sondern eher bei AfD und Union? Es geht darum, diese Niederlage gründlicher und gewissenhafter aufzuarbeiten als 2009, 2013 und 2017.

Der Vorstandsbeschluss vom 3. März 2025 darf kein Strohfeuer sein. Dafür wäre es hilfreich, wenn nicht allein der Generalsekretär den Hut in diesem Prozess aufhätte, sondern unabhängige Persönlichkeiten etwa aus den SPD-Landesverbänden. Vonnöten ist ein strategischer Prozess, in dem die längerfristigen Ursachen und Hintergründe des Ergebnisses herausgearbeitet und Interpretationsmuster entwickelt werden. Großorganisationen tendieren in regressiven und unübersichtlichen Zeiten (in denen es weniger Ämter zu verteilen gibt) oft zu Abschottung und Binnenlogiken. Gegen diesen Reflex muss sich die SPD stemmen, indem sie sich zur progressiven Gesamtlinken hin öffnet. Klug angelegt kann ein solcher Öffnungsprozess neue Menschen mit vielfältigen Biografien an die Partei binden.

Eine wichtige Fragestellung für die Debatte: Welche Teile des Modells Deutschland müssen bewahrt werden, und an welchen Stellen sind größere strukturelle Veränderungen notwendig? Die SPD sieht sich selbst gern als Reformpartei. Aber ist sie dies auch? Wer ChatGPT nach den sozialdemokratischen Reformen der vergangenen zehn Jahre fragt, bekommt folgende Stichworte geliefert: Mindestlohn, Grundrente, Kindergeld, Bürgergeld, Kohleausstieg, Deutschlandticket, Ehe für alle, Fachkräfteeinwanderung und Krisenmanagement.

Diese unvollständige Liste zeigt, dass die SPD das Handwerk solider Regierungsarbeit beherrscht. Einerseits. Andererseits ist dieses im Kern konservative Land seit der Agenda 2010 um große Strukturreformen umhingekommen. Was liegen blieb, muss nun bearbeitet werden. Die SPD wird gebraucht, als Ideengeberin und Umsetzerin. Anders als in der zurückliegenden Legislaturperiode, wo die Partei ruhig gestellt zu sein schien, muss der Reformprozess in der Partei auf ein hohes Niveau gebracht werden. Dafür muss die Partei in den Reformmodus gelangen und sich selbst herausfordern. Bob Dylan hat einmal gesagt: »Das Leben geht nicht darum, sich selbst zu finden. Das Leben geht darum, sich selbst zu erschaffen.« Vielleicht gilt das gerade jetzt auch für die SPD.

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